Die perfekte Illusion

Fotorealismus - 50 Jahre hyperrealistische Malerei, Hrsg. von Otto Letze

von Frank Becker

© Hatje Cantz - Don Eddy, Untitled (Ausschnitt)

Die perfekte Illusion
 
Fotorealismus – „Gratwanderung“ zwischen Pinsel und Kamera
 
Noch bis zum 10. März ist in der Kunsthalle Tübingen unter dem Titel „50 Jahre hyperrealistische Malerei“ eine repräsentative Ausstellung des Genres zu sehen, das sozusagen das „Prinzip Daguerre“ der frühen Fotografie auf den Kopf stellt. Wenn damals das Ziel war, mit dem Mittel der belichteten Fotoplatte ein mit den Augen des Malers gesehenes Bild reproduzierbar herzustellen, macht sich der Fotorealismus zur Aufgabe, mit den Mitteln der Malerei das Foto zu kopieren, mehr noch: das Foto durch künstlerische Überhöhung zu übertreffen.
Otto Letze hat zu der Ausstellung ein hervorragendes Katalogbuch erarbeitet, das mit großformatigen Abbildungen und knappen, jedoch den Punkt treffenden Texten das Genre und seine Protagonisten vorstellt. Die Faszination der „gemalten Fotografie“ liegt in der kühlen Präzision, der sowohl verblüffenden wie bestechenden Detailtreue und des häufig die fotografische Vorlage übertreffenden Realismus einer Arbeit, denken wir nur an Rod Penners „Orange St. And Main, Fredericksburg, TX (Katalog S. 149) und sein „212 / House With Snow“ (Katalog S. 151), in denen sich Penner mit Gregory Crewdsons aufwendigen Foto-Inszenierungen zu treffen scheint.
Charles Bells „Before the Journey“ (Katalog S. 55) oder Ralph Goings´ „America´s Favourites“ (Katalog S. 89) gehören wie Yigal Ozeris „Lizzie Smoking“ (2010, Katalog S. 177) und Randy Dudleys Stadtlandschaften ebenfalls in diese Reihe.


Gus Heinze, "Mobile Reentry Vehicle" 1990, Courtesy Bernarducci.Meisel.Gallery, New York
 
Aus dem (bearbeiteten) Klappentext: „Die Fotorealisten widmen sich dem schönen Schein des modernen Alltags, der spiegelnden Welt der Oberflächen. Reflektierende Schaufenster, chromglänzende Limousinen, knallbunter Plastikkitsch und urbane Szenerien gehören seit 50 Jahren zu ihren Lieblingssujets. In aufwendigen Arbeitsprozessen kreieren die Künstler mit technischen Hilfsmitteln gemalte Illusionen: Sie fotografieren ihre Malvorlage, übertragen diese per Diaprojektion, Rasterverfahren oder digitalen Techniken und bannen sie detailgetreu mit dem Pinsel oder der Spritzpistole auf die Leinwand. Die Publikation präsentiert die beeindruckenden Werke der Protagonisten des Stils aus den 1960er-Jahren über drei Künstlergenerationen hinweg zu den hyperrealen Seherlebnissen digital arbeitender, zeitgenössischer Vertreter.“
 
Franz Gertsch läßt seine Gouache Frauenportrait „Irène VIII“ (1981) wie eine bearbeitete und nachkolorierte Fotografie wirken, ähnlich wie Robert Bechtle das Ölbild „Alameda Chrysler“ aus dem selben Jahr. Chuck Close setzt bei seinem „Self Portrait“ (1977) das Rasterverfahren beinahe pointilistisch ein, zehn Jahre später bei „Susan“ mit Raindrop-Effekt. Immer wieder verblüffende Hingucker sind die effektvollen Lack-, Neon- und Chrom-Bilder von Don Eddy, Robert Cottingham, Peter Maier, Gus Heinze, Richard Estes, David Parrish, Davis Cone und Robert Gniewek. Die gläsern lusvolle Hyperrealität der Gläser Roberto Bernardis (Katalog S. 159-161) entspricht der oben erwähnten Überhöhung, während John Kacere mit seinen erotischen Teil-Akten wie „Serina `72“ (1972, Katalog S. 93) bereits wieder den ganz großen Bogen zur klassischen Malerei schlägt.

 
 John Kacere, „Serina `72“ (1972)
 
Otto Letze hat die Vielfalt an Techniken in Öl und Acryl, Airbrush und Gouache, Chromax und Radierung auf allen nur denkbaren Untergründen in seinem Buch exemplarisch zusammenbringen und damit einen Überblick über rund 50 Jahre des Genres „Fotorealismus“ schaffen können. Wer bis zum 13. März noch Gelegenheit hat, die Ausstellung in Tübingen zu besuchen, sollte das nicht versäumen. Später wird sie in Madrid und danach in Birmingham zu sehen sein.
 
Fotorealismus - 50 Jahre hyperrealistische Malerei
Hrsg. Otto Letze, Vorwort von Otto Letze, Daniel J. Schreiber, Texte von Linda Chase, Nina S. Knoll, Louis K. Meisel, Uwe M. Schneede, Daniel J. Schreiber,
© 2012 Hatje Cantz, 200 Seiten, Klappenbroschur, 91 Abb., 26,30 x 28,20 cm, Gestaltung von stapelberg&fritz
ISBN 978-3-7757-3532-2 - in deutscher und englischer Ausgabe zu bekommen (Englische Ausgabe ISBN 978-3-7757-3585-8)
35,- €
 
Die vorgestellten Künstler (Auswahl):
John Baeder, Robert Bechtle, Charles Bell, Tom Blackwell, Roberto Bernardi, Anthony Brunelli, Chuck Close, Robert Cottingham, Don Eddy, Richard Estes, Audrey Flack, Franz Gertsch, Robert Gniewek, Ralph Goings, Clive Head, Gus Heinze, Ben Johnson, John Kacere, Ron Kleemann, Jack Mendenhall, Bertrand Meniel, Robert Neffson, Yigal Ozeri, David Parrish, John Salt, Ben Schonzeit, Raphaella Spence, Bernardo Torrens
 

Roberto Bernardi, "Meeting" 2012 - Courtesy of Bernarducci.Meisel.Gallery, New York
Ausstellungen: Kunsthalle Tübingen 8.12.2012 – 10.3.2013 | Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid 9.4. – 30.6.2013 | Birmingham Museum and Art Gallery 20.11.2013 – 30.3.2014