Rhein und wahr

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Ernst Bloch
und andere Wegweiser fürs Leben

2. März: Heute las ich etwas von Ernst Bloch. »Man achte gerade auf kleine Dinge, gehe ihnen nach. Was leicht und seltsam ist, führt oft am weitesten.« Ich finde das so wahr, daß ich heulen könnte.
 
5. März: Ich kaufe mir die Zeitung genau wegen der Artikel, die ich dann nicht schaffe zu lesen. Ich bin mir aber im klaren darüber, daß ich damit die Autoren dieser Artikel mitfinanziere. Auch genügt es mir manchmal, daß die Themen dieser Artikel aufgegriffen werden und eine gewisse Verbreitung finden.
 
7. März: Es ist kein Aberglaube, der mich aufrüttelt. Ich sehe nur manche Nebensächlichkeiten als bedeutenden Zeichen an, um dem Alltag auf die Spur zu kommen. Heute habe ich, ungelogen, sieben Mal hintereinander gehustet und deshalb beschlossen, nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren. Ich habe mal an einem Tag, als die Birne meiner Schreibtischlampe geplatzt ist, auf ein Rendezvous mit einer Mediamarkt-Mitarbeiterin verzichtet. Natürlich steht das alles nicht wirklich in einem Zusammenhang, aber der Mensch braucht Führung. Ich brauche Wegweiser. Ich suche Entscheidungshilfen. Ich beobachte den Weltenlauf und das Verhalten des Briefträgers und mache mir meinen Reim daraus. Ich habe in meiner Dusche einen Wischer, mit dem man die nassen Duschwände trocken wischen muß. Meine Ex hat immer darauf geachtet, daß ich nach dem Duschen die Duschkabine reinige, um Schmutz und Schimmel in seine Schranken zu weisen. An diesem Ritual habe ich selbst nach ihrer Flucht festgehalten. Der Wischer hängt mehr schlecht als recht an einem Saugnapf, an dessen Haken man auch Waschlappen hängen könnte. Oft kommt es vor, daß dieser Wischer mitsamt dem Saugnapfhaken in die Duschwanne stürzt und alles mit sich reißt, was unter ihm plaziert war. Ich stelle oft meine vollen und leeren Shampooflaschen auf dem Wannenrand ab. Ich kann nun, wie bei einem Kegelspiel, mein Schicksal herausfordern. Stürzt der Wischer auf die Flaschen, reißt sie um, zähle ich die stehen gebliebenen Shampooflaschen und leite daraus mein Unglück ab. Gestern hatte ich großes Glück. Acht Shampooflaschen und zwei Seifendosen lagen umgestürzt in der Wanne. Da stand nichts mehr in Reih und Glied. Der Wischer hatte ganze Arbeit geleistet. Full house. Er hatte bei seinem Sturz alles umgerissen, was ihm in die Quere kam. Das hörte sich nach einem Glückstag an. Ich war gleich sehr beunruhigt. Ich bin mir sicher, daß ich noch umarmt werde. Bei meiner Angst vor körperlicher Nähe ist das kein schöner Gedanke. Hoffentlich läßt sich das Glück auch auf meine Bedürfnisse ein. Ich wäre zum Beispiel gerne unsichtbar. Ich würde gerne die heilige Kommunion empfangen. Mir fehlt es an Aufmerksamkeiten und Entschuldigungen. Ich würde gerne die Welt bestrafen.



© 2013 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker