Begegnung in Europa: Neandertaler und frühmoderner Mensch

Brian Fagan - „Cro-Magnon Das Ende der Eiszeit und die ersten Menschen“

von Friederike Hagemeyer

Begegnung in Europa:
Neandertaler und frühmoderner Mensch
 
von Friederike Hagemeyer
 
 
Vor ca. 40.000 Jahren tauchten die ersten „anatomisch modernen Menschen“ (Homo Sapiens) in Europa auf. Dort lebten seit ca. 150.000 Jahren bereits Angehörige einer älteren Menschenart, die Neandertaler (Homo Neandertalensis). Etwa 10.000 Jahre lang durchstreiften diese beiden Menschenarten denselben geografischen Raum. Begegnungen blieben nicht aus. Doch wie gestalteten sich diese Zusammentreffen? Trat man sich feindlich gegenüber? Dafür gibt es bisher keine Belege. Ging man sich aus dem Weg? Oder kam man sich näher, vielleicht sogar so nahe, daß gemeinsame Nachkommen entstanden?
Tatsache ist, daß die Neandertaler vor ungefähr 30.000 Jahren von der europäischen Bildfläche verschwanden. Warum starben sie aus? Warum setzten sich die frühmodernen Menschen, die Neuankömmlinge, in Europa und weltweit so erfolgreich durch?
Diese Fragen beschäftigen Wissenschaftler und faszinieren Laien seit geraumer Zeit, und je nach Stand der archäologischen Forschung verschieben sich die Szenarien und die Erklärungsversuche.
 
Neandertaler und frühmoderner Mensch im Vergleich
 
Brian Fagan, britischer Archäologe und Bestsellerautor, lassen diese Fragen ebenfalls nicht los. In seinem neuesten Buch „Cro-Magnon, das Ende der Eiszeit und die ersten Menschen“, erschienen 2012 bei Theiss in Stuttgart, versucht auch er diesen Fragen nachzugehen und das Rätsel zu lösen. Um seinem Ziel näher zu kommen, vergleicht Fagan ausgehend von Werkzeug-, Waffen- und Schmuckfunden die Neandertaler und die „Cro-Magnon-Menschen“  -   Fagan benutzt einen veralteten Begriff  -  im Hinblick auf ihre sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten.
„Die Neandertaler waren barfüßige Männer mit enormer Kraft, deren Körper in krude mit Riemen zusammengehaltene dicke Felle gewickelt waren. Sie trugen schwere feuergehärtete, [hölzerne] Speere und vermutlich Holzkeulen.“ (S. 20) „Das stumme Volk“ (S. 74) verfügte noch über „keine vollständig artikulierte Sprache“ (S. 78), sondern konnte sich höchstens in einer „Art Pidgin-Aurignacien“ (S. 142) verständigen. Ihre „intellektuellen Fähigkeiten [waren] wahrscheinlich relativ gering“(S. 8), aber sie „konnten ihren Weg durch die Landschaft … erfühlen“ (S. 75) „Ihre instinktiv erworbene Kenntnis der Umgebung dürfte die Neandertaler sicher immer wieder an Orte geführt haben, an denen wandernde Rentiere Flussfurten überquerten und sich Situationen boten, die eine längere Planung sowie ein aufwendiges Auflauern überflüssig machten.“ (S. 78) „Die Nahrungsgrundlage der Neandertaler bildete hauptsächlich die faszinierende Tierwelt jener Zeit. Die Neandertaler waren lediglich ein kleiner Teil von ihr.“ (S. 70)
Homo sapiens hingegen, der Neuankömmling im eiszeitlichen Europa, wird so beschrieben: „ Behände und hochgewachsen gleichen die Cro-Mangon-Menschen anatomisch und intellektuell modernen Menschen. Wir wissen, daß … sie sich ebenso klar artikulieren konnten wie wir.“ (S. 17) Ein wesentlicher Vorteil war, daß sie über Nähnadeln verfügten; aus Knochen oder Geweih gefertigt, erleichterte dieses winzige Gerät die Herstellung ihrer Fellkleidung. „Wir können die Bedeutung maßgeschneiderter Kleidung … nicht hoch genug einschätzen  -  vor allem, wenn man sie mit um den Körper gewickelten Fellen vergleicht.“ (S. 29) „Was den Neuankömmlingen ihren wahren Vorsprung verschaffte, war ihr intellektuelles Bewußtsein und ihre Vorstellungskraft  -  ihre Fähigkeit … im Voraus zu planen und ihre Umwelt als eine dynamische, lebendige Welt wahrzunehmen.“ (S. 30) „Effektive Technologie, eine genaue Selbsteinschätzung und eine enge Beziehung zu ihrer Umwelt zeichnete diese Menschen aus, deren Persönlichkeitsstruktur sie so erfolgreich machte.“ (S. 176)
 
Da ist es wieder das Bild vom keulenschwingenden Kraftprotz ohne Verstand, der nur mit Hilfe seiner Instinkte überlebt und damit der Tierwelt näher steht als den Menschen. Einer „Intelligenzbestie“ wie dem Cro-Magnon-Menschen konnte der Neandertaler nicht gewachsen sein.
 
Sichtweise der 1990er Jahre
 
Abgesehen von dem Schwarz-Weiß-Bild, das Fagan zeichnet, stecken diese Beschreibungen voller Spekulationen, die nicht durch Funde belegt sind. Darüber hinaus sind archäologische Erkenntnisse u.a. von deutschen Fundplätzen nicht berücksichtigt, obwohl sie bereits längere Zeit vor Erscheinen von Fagans Buch (auch der englischen Ausgabe) in der Fachpresse diskutiert worden waren. (vgl. dazu Kuckenburg, 2001 und F. Schrenk, 2010).
Fagan gibt sich mit seinen Einschätzungen als Vertreter einer in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aus England und den USA kommenden Sichtweise zu erkennen, „der zufolge dieser Altmensch [d.i. der Neandertaler] eher selbstgenügsam, kulturell beschränkt und technologisch wenig innovativ gewesen sein soll.“  Alle Neuerungen am Übergang zum Jungpaläolithikum (40.000 – 10.000 v. Chr.) gehen nach dieser Auffassung allein auf Homo Sapiens zurück. Doch seit etwa 2000 hat in dieser Frage ein Umdenken stattgefunden, und der Neandertaler erscheint, nicht zuletzt belegt durch neue Funde oder Neubewertungen alter Funde, in einem neuen Licht. (Kuckenburg, S. 145)
Da Fagan, wie er selber schreibt, „im Wesentlichen Literatur aus dem englischsprachigen Raum“ (S. 269) berücksichtigt, erstaunt es nicht, daß er die darin vertretenen Sichtweisen übernimmt. Die Frage ist jedoch erlaubt, ob seine Darstellung nicht aktueller und differenzierter ausgefallen wäre, wenn er auch Literatur deutscher und französischer Fachleute herangezogen hätte.
 
Rätsel bleibt weiter ungelöst
 
Die Frage, warum die Neandertaler verschwanden und Homo Sapiens sich so erfolgreich ausbreitete, beantwortet Fagan mit der überragenden Intelligenz der Einwanderer. Allerdings überzeugt diese Auffassung nicht alle Leser, wie gezeigt wurde. Möglicherweise liegt des Rätsels Lösung auf einem ganz anderen Gebiet, den seit 2009 bekannt gewordenen DNA-Untersuchungen des Neandertaler-Genoms, das nun vollständig entschlüsselt vorliegt. Das überraschende Ergebnis: alle heute lebenden Asiaten und Europäer tragen zwischen ein und vier Prozent des Neandertaler-Erbgutes in sich. In Fagans Buch bleiben diese Erkenntnisse unberücksichtigt.
 
Buch reizt zum Widerspruch
 
Dennoch, Fagan hat ein anregendes Buch vorgelegt, dessen Gewinn vor allem darin liegt, daß es zum Widerspruch reizt. Recht anschaulich sind kurze filmartige Szenen gelungen, bei denen die Hauptpersonen selber, z.B. bei der Jagd, auftreten und den Leser mitnehmen ins eiszeitliche Frankreich. Fazit: Trotz aller Einwände hat Fagan mit „Cro-Magnon“ ein durchaus lesenswertes Buch verfaßt.


Brian Fagan -  „Cro-Magnon Das Ende der Eiszeit und die ersten Menschen“
©  2012 Theiss Verlag, 288 Seiten mit 30 s/w-Abbildungen, 8 Farbtafeln und 7 Karten. 15,5 x 23 cm. Gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-8062-2583-9
29,95 €

Weitere Informationen: www.theiss.de

Ergänzende Literatur:

Martin Kuckenburg: Als der Mensch zum Schöpfer wurde, an den Wurzeln der Kultur. - Stuttgart: Cotta 2001. 238 S. Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Friedemann Schrenk, Stephanie Müller: Die Neandertaler. 2. Aufl. - München: Beck 2010. 127 S. (Reihe C.H. Beck Wissen. 2373)