No Funny Valentine - No More

Eine Erinnerung an einen Verfolgten: Chet Baker

von Andreas Steffens

© Just A Memory Records

No Funny Valentine - No More

Eine Erinnerung an einen Verfolgten: Chet Baker

Seit Jahren hatte ich darauf gewartet, ihn auch einmal auf einer Bühne erleben zu können. Die erste Gelegenheit ist nun die letzte geblieben - und sie war gar keine gewesen. Gesehen habe ich ihn vor anderthalb Jahren zwar, auch ein paar Worte mit ihm gewechselt, doch spielen ha­be ich ihn nicht gehört. Seit jenem Winterabend in Köln war ich täglich auf die Todesnachricht "gefaßt" - ich hatte einen Menschen gesehen, der schon lange nicht mehr bei sich war. Es war eine jener ganz seltenen Begegnungen geworden, bei denen man tief erschrickt.

Da ich auf eine Freundin wartete, die nach ihrer Probe noch da­zukommen wollte, hatte ich in Eingangsnähe einen Platz genommen, dort, wo sich in jenem Club auch die Musiker und ihre Begleitungen um die Bar versammeln. Wie nicht anders zu erwarten, kam er nicht pünktlich. Eine gute Stunde nach der als Konzertbeginn angesetzten begann man an den Nebentischen halb verärgert, halb amüsiert, Wetten abzuschließen, ob er endgültig nicht oder vielleicht doch noch auftreten würde. In seinem verständlichen Unmut erzählte der Club-Manager inzwischen, was für unvorstellbaren Ärger er nicht schon mit ihm gehabt habe; dieses sei jedenfalls nun wirklich das letzte Mal - womit er Recht haben sollte. Als die ersten Zuhörer schon vor einer Weile wieder gegangen waren, nicht ohne ihr Eintrittsgeld zurückgefordert zu haben, das sie auch er­hielten, gingen die Sidemen kurzentschlossen aufs Podium und began­nen zu spielen, eifrig, froh nun endlich in Aktion zu sein, doch wenig inspiriert.

Und dann geschah es also doch - mitten in den ersten trotzigen Chorus-Applaus hinein erschien er: einen Trompetenkoffer unter jedem Arm bahnte Chet Baker sich einen Weg durch den engen Gang, in dem die auf Wiederaushändigung ihres schon verloren geglaubten Geldes Wartenden sich drängten. Unentschlossen, ob man es nun noch neh­men oder nicht doch bleiben wollte, betrachtete man die unberechen­bare Berühmtheit, als wäre er, der sich unterdessen an mein Tischchen gesetzt hatte, ein exotisches Tier, mit einer Mischung aus neugieriger Zu­dringlichkeit und vorsichtiger Zurückhaltung.
Da war er also, saß mir auf kaum einen halben Meter gegenüber - und war doch unendlich weit entfernt. Ich kannte seine Geschichte, hatte Photos gesehen, war also "vorbereitet" - dennoch war ich ent­setzt: ich sah in das zerstörte Gesicht eines Menschen, der sich verloren hatte. Er war zwar nun hier, an diesem Ort, doch nicht da. Seine Außen­wahrnehmung mußte extrem vermindert sein: in einer Frostnacht ging er in offenen Sommersandalen. Eine offenbar kaum erträgliche Span­nung hielt einen zitternden Körper in ihrer ziellosen Gewalt, am Rand der Beherrschung. Die tief verhangenen Augen waren ohne wirklichen Blick, ein flackerndes Umherirren im Raum hatte ihn überwältigt. Ein stummes Stöhnen wand seine gekrümmte Gestalt, auf sein vis-a-vis das bedrängende Empfinden übertragend, als müsse er daran sein zu zer­springen.

Es hielt ihn nicht. Der selbstquälerische Zwang, sich zu „fassen", woll­te nicht wirken. Er war auf der Flucht. Aber vor nichts, das sich hätte bestimmen lassen; kaum diesem entronnen, würde er auch den näch­sten Ort wieder fliehen müssen. Die niemanden ansehenden Augen wa­ren flehend auf der Suche nach dem Ausweg. Eine lauernde Wahrneh­mung, die sich an nichts und niemanden gezielt heftete, hatte jegliche Kommunikation verdrängt. Weder ließ er sich wirklich ansprechen, noch sprach er gezielt zu jemandem. Die wenigen Worte preßten sich so aus ihm hervor, wie sie gerade kommen mußten. Das ihm hastig in beruhigender Absicht gereichte Glas Bier trank er kaum zur Hälfte aus, in kurzen Zügen, so, als könne er nicht sicher sein, auch schlucken zu können. Mit seiner maßlos traurigen Knabenstimme verlangte er, ihn wieder zurück ins Hotel zu bringen, mehrere Male.

„Is it his band or is it my band?" Das war der Ausweg. Die in die Enge: den Club voller Voyeure, in den die Welt sich ihm seit unerträglich langen Jahren zusammengezogen hatte, ohne daß es noch eine andere Weite als die seiner Chorusse hätte geben können - die in die Enge getriebene Kreatur rettete sich in die Eitelkeit des exzentrischen Künst­lers, der beleidigt darauf besteht, der Leader zu sein. Daß der seit Jahr­zehnten Weltberühmte in seiner Not so fragen konnte, entblößte den an der Wurzel seiner Existenz zu kurz Gekommenen, den stets hilflos noch der kleinsten Verletzung Ausgelieferten, zu der selbst geraten konn­te, was die anderen doch nur gut, als Entlastung meinen mochten. Das Zureden der ihn Umstehenden, man sei doch nur seinetwegen gekom­men, alles andere sei doch unwichtig, hörte er, der Verfolgte, nicht.
Seiner selbst nie gewiß, war er schließlich fähig zu existieren, wenn auch kaum zu leben, nur noch durch die gnädige Entrückung des un­zumutbar Wirklichen in den mörderischen Verwandlungsgaukeleien der Droge geworden. In der desinvolture des Rausches, dessen Verklin­gen das Elend nur um so härter zugreifen ließ, kam er so weit zu sich, der Musiker sein zu können, der er war - seine Kunst, von deren "un­wirklicher Schönheit" die Feuilletons nichtsahnend daherredeten, war nicht sein Leben; sie war an dessen Stelle.

Es ist ein furchtbarer Preis, den der Jazztrompeter Chet Baker für seine ergreifend vollkommene Musik zahlen mußte: seit sein Leben be­gann. Ich war froh, daß er seinen Ausweg gefunden hatte und, einen Instrumentenkoffer unter jedem Arm, den Ort so unauffällig floh, wie er ihn betreten hatte. Ich war froh, daß er nicht spielte. Wie hätte man es über sich gebracht, zuzusehen, wie einer sich die Seele aus dem Leib spielt, der sie schon lange nicht mehr hat und kaum noch auch nur über diesen leib verfügt? Der erbarmungslose Voyeurismus der Fans wäre an ihm zur obszönen Untat geworden. So ließ ich denn auch eine zweite Gelegenheit, ihn ein Jahr später in einer nahegelegenen Bar zu hören, verstreichen, indem ich es von Tag zu Tag verschob, Karten zu kaufen, bis es verpaßt war.
Ich hatte an jenem Abend zu erleben gehabt, daß es dies wirklich geben kann, daß einer lebt, ohne am Leben zu sein. Allen begeisterten Anhängern "der Kunst" gegen "das Leben" - es gibt sie noch, es gibt sie noch! - wünschte ich einen gleichen Moment vollkommener Ernüch­terung wie den schockierenden Blick in das zerstörte Gesicht des Chet Baker.
An diesem Künstler vollzog sich so etwas wie die beschleunigte Ent­ropie des zur Selbstverleugnung unfähigen Subjekts - nur wer von sich absehen kann, wer nicht verurteilt ist, in sich verschlossen zu bleiben, hält es in einer Welt ein wirkliches Leben lang aus, die voll der gleich­gültig-feindlichen Andersheiten ist. Die Kunst aber bleibt deren teufli­sche Komplizin, solange sie wie die Musik Chet Bakers eine der Selbst­einkapselung ist. Sie war zu schön, um rettend sein zu können. Ein über das unvermeidliche Maß hinaus schrecklicher Tod droht dem, der vor ihm als der Welt in die Schönheit flieht: ein Un-Leben als ständiges Ster­ben.

Wir machten uns am nächsten Morgen nach einem langen Konzert der Begleitcombo recht schweigsam auf den Rückweg. Nun weiß ich, daß ich damals wußte, ohne es mir recht zu gestatten, diesen Mann nicht lebend wiederzusehen. Seit der Nachricht, daß er auf gräßliche Art zu Tode kam, habe ich noch keine der Platten dieses zeitgenössischen Do­rian Gray wieder angehört. Und ich werde wohl noch einige Zeit lang zögern, es zu tun.
Es gibt eben auch jene andere Seite, jene, auf der man sich vor der Kunst gerade hüten muß, weil es einem so schwer ist zu leben. Man muß sie als Leben betreiben, um an ihr nicht zugrundezugehn. Das an die Kunst verlorene Leben ist noch weniger eines als das, dem sie beisprin­gen muß. "Romantiker" - auch sie gibt es noch - sind fröhliche Tragiker auf Kosten ihrer verehrten Entertainer.



© Andreas Steffens - Dieser Text wurde erstmals  in "zeitmitschrift" - Journal für Ästhetik, Nr. 5 - Herbst 1988 veröffentlicht.