Abende von Berlin -
mit Canaillen Er ist ein Unikum im besten Sinn des Wortes – ein Mensch ohnegleichen, so nennt mein geliebtes Fremdwörterbuch von 1858 solche nicht Vergleichbare wie Max Christian Graeff. Er ist Verfasser von Gedichten, Sänger in diversen Bands, Performer, einst auch Theaterregisseur, Chansonnier, Diseur, Verleger von womöglich fünf Verlagen, Grafiker und was weiß ich noch alles, er ist ein Meister der Verzettelung, was auch dazu führt, daß der große Durchbruch ihm immer verwehrt sein wird.
Nun war der Ex-Elberfelder zusammen mit dem Schweizer Christov Rolla als eine von zwei Canaillen zu Gast in Berlin und bescherte der Hauptstadt einen Abend von unvergleichlicher Chansonperformancekunst in der „Bar Americain Gainsbourg“ von Charlottenburg, wohin ungewöhnlicherweise selbst Gäste aus dem Osten Berlins geströmt waren, um “Canaille du jour“ zu erleben. Canailles de la nuit.
Da steht ein schlaksiger Kerl unbestimmten Alters am Mikro neben dem Piano, wirft seine zu langen Arme in die Lüfte, wenn es besonders ausdrucksstark zugehen soll, schüttelt sein langes Canaillenhaar und ist doch nicht die Loreley, singt, schreit, schnarrt, blökt, flüstert wie eine Diseuse all diese Chansons der Desillusion, Lieder aus dem Englischen, dem Französischen in bisweilen eigener Übersetzung, zumeist jedoch wie deutsche Texter in den 50/60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ahnungslosen Stars der Zeit sie für den deutschen Plattenmarkt in den singenden Mund gelegt hatten.
Vor etwa dreißig Jahren habe ich Max Christian Graeff kennen gelernt. Er tauchte auf einmal auf in der Stadt, die Wuppertal heißt. Großen federnden Schritts, die Haare zum Zopf gebunden, stets eilte er mit einer Ledermappe am langen Arm durch die Straßen. Der Typus junger Mann als Künstler. Was war drin in dieser Mappe, fragte man sich. Gedichte gewiß. So tippte fast jeder. Und in der Tat schrieb der junge Mann von vielleicht zwanzig Jahren. Ich hatte es vergessen, aber nun kam die Erinnerung. Ich war in der Jury eines Schreibwettbewerbs des Von der Heydt-Museums und prämierte einen Text, den er, was ich noch nicht wußte, verfaßt hatte. Er bekam als Preis ein Bild eines Wuppertaler Malers. Hat er es mit in sein Schweizer Exil genommen? Dann wußte ich, der junge Mann war Christian Graeff und ich organisierte mit ihm den ersten Wuppertaler Literaturmarkt. Seine Karriere begann vor allem mit Gedichten und dann auch als Performer jener legendären Musiktheaterkabaretttruppe: „Skola.“ Irgendwann war er weg, hatte auch kurzzeitig in Berlin versucht, Fuß zu fassen, vergeblich, verkroch sich lieber in einem Schweizer Dorf mit Anschluß an Luzern. Lieber Lokalmatador dort, denn einer unter vielen in einer Großstadt, wie Goethe einst. König in der Provinz. Wiedererlebt habe ich in dann vor zwei, drei Jahren an einem Abend in Berlin, als er in der Landesvertretung des ehemaligen Heimatlands, seine Barmer Sonette las, feine Gedichte über die Illusionen des Lebens. Nun also als eine Canaille. Du Jour und nicht de Jour, was ja einen bedeutenden Unterschied macht, wie schon bei der Belle de jour der Deneuve.
„Die Liebe ist ne Operette, sie geht vorbei, das ist ein Glück“ singt er schnarrend und bricht in dreckigstes Lachen aus, „wenn Liebe etwas Ernstes wäre, ja dann...“ der Refrain, bitteres Resumé des Chansons: „Wer morgen liebt, ist heut’ schon alt.“
Denn: „Frauen sind anders!“ setzt er trockenst eine Erkenntnis in den Saal, wartet einen kleinen Augenblick auf eine Reaktion. Eine lacht. Und dann stimmt er das böse Lied an: „Ich stand unter ihrer Nase“ und die Frau, die so anders ist, besingt er so bar jeder Romantik in der Gainsbourgbar: „Johnny! Ich nimm mir was ich brauch’“ assistiert von Christov Rolla als Backgroundsänger und wunderbarem Pianisten, und schließlich „Sie schlug mir die Lust um die Ohren.“
So geht es weiter im Programm der Desillusion, doch mittendrin dann überraschend das Ne me quitte pas: „Bitte bleib bei mir“, beginnend als Baßdiseur, sodann mit der Anmut der Scheu zaghaft singend: „Laß mich nicht allein“ und gen Ende „Bleib ein wenig da“, man ahnt die Fragilität, den möglichen Absturz, ergreifend, anrührend, das ist nicht mehr Brel, das ist Graeff.
Dann noch eine Reverenz an den Ort und den Namensgeber, ein Chanson von Gainsbourg, Zugaben, gefordert von der begeisterten Audience.
Nach zwei Stunden ist leider Schluß. „Komm erzähl mir mehr von Liebe und süßem Verlangen“, haben sie im Duo gesungen, einst war es die Boyer. „Parlez moi d’amour“. Um eine einzige Frage drehte sich dieser canaillöse (nichtswürdige, so übersetzt mein altes Wörterbuch) Abend von Berlin: „Kann man lieben?“
Redaktion: Frank Becker
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