Ein Spiel, das manches „nicht ist“

Gedanken über weite Entfernungen. Eine Kontaktaufnahme vom büro für zeit + raum.

von Martin Hagemeyer

Foto © Tom Buber

Ein Spiel, das manches „nicht ist“
 
Gedanken über weite Entfernungen.
Eine Kontaktaufnahme vom büro für zeit + raum.

Uraufführung
 
Inszenierung: Anne Hirth und Christian Kesten - Musikalische Leitung: Christian Kesten – Bühne und Kostüme: Alexandra Süßmilch – Lichtdesign: Arnaud Poumarat – Dramaturgie: Johannes Blum – Oliver Held
Besetzung: Irena Tomaži – Ivan Fatjo – Ariel Garcia – Gregor Henze – Gregory Stauffer

Eine Grundannahme, der kein Theaterfreund widersprechen würde, ist, daß eine Theateraufführung vom Zusammenspiel lebt. Eine andere, verwandte heißt: „Zwei Aufführungen desselben Stücks sind nie genau gleich.“ Beides sind für den Zuschauer wirklich vor allem Annahmen – denn wie soll er sie wahrnehmen? So recht auffallen werden ihm diese Regeln wahrscheinlich vor allem, wenn etwas schiefläuft.
 
„Gedanken über weite Entfernungen“ ist so gesehen und kühl gesagt: Lernobjekt. Das Performanceprojekt der Theatermacherin Anne Hirth vom Berliner „büro für zeit+raum“ zusammen mit Christian Kesten führt im Kleinen Schauspielhaus Prozesse vor, die beim Theater ständig stattfinden sollten – bloß daß sie sonst unauffällig bleiben. Das gilt für Prozesse vor wie auch hinter den Kulissen: Einerseits zeigt der Abend ein Grundmuster, das beim Spielen die Handlung von Stücken bildet, nämlich „Aktion und Reaktion“. Und andererseits zeigt es das Training für derlei Bühnen-Austausch, wie man es abseits auf der Probe betreibt.
Das könnte alles trocken und kompliziert ankommen beim Publikum – so wie dieser Text es für den Leser möglicherweise tut. Die Zuschauer zumindest am Premierenabend waren aber vorgewarnt: Nicht die Regisseurin zwar, aber Dramaturg Johannes Blum führte in Anliegen und Arbeitsweise von Anne Hirth ein, die nicht im üblichen Sinne Stücke inszeniert. Nicht erwarten sollten die Besucher von der bevorstehenden Uraufführung außerdem Figurenrollen der einzelnen Schauspieler, einen fertigen Text und noch einiges mehr. Sodaß die Frage einer zuhörenden Teilnehmerin nahelag: „Was denn dann?“
 
Bei der Aufführung, einem ganz ungewöhnlichen Erlebnis, wurde klar: Stimmt, das alles ist „Gedanken über weite Entfernungen“ nicht, und diese Offenheit läßt ja manches hoffen. Es gibt allerdings noch mehr, das es nicht ist. Nicht ist es zum Beispiel das gesammelte Ergebnis seiner acht Vorläufer. Soll heißen: Lange bevor die eigentlichen Proben hin zur Premiere begannen, hatten Hirth und ihre Mitstreiter in lockerer Folge zu ganz unterschiedlichen Terminen namens „morsen eins bis acht“ eingeladen – außer im Schauspielhaus auch im „Kunstraum Olga“ in der Elberfelder Nordstadt und anderswo. Was dort zusammengetragen wurde an Eindrücken und Assoziationen – wer nach dieser Vorbereitung für die abschließende Produktion ein Feuerwerk an Einfällen zum Thema „Fernkommunikation“ erwartet hätte, wäre nun enttäuscht gewesen. Das macht nichts, denn daß heute sehr wenig geknallt wird, ist zweifellos eine Qualität des Abends.
 
Was „Gedanken über weite Entfernungen“ ist, endlich: Das sind Spielarten von Kommunikationsprozessen. Diese Prozesse finden ganz offensichtlich vor aller Augen auch statt und sind nicht nur Thema. Voller Improvisationsanteile, also jeden Abend anders und daher ganz logisch auch Anlaß für Spontaneität und das besagte Zusammenspiel.
Konkret! Zu Beginn sitzen die fünf Schauspieler frontal zum Publikum – ohne ein Wort, ohne eine Miene. Man erlebt: Stille. Dann beginnen sie zwar zu sprechen, aber es sind noch Sätze ohne Zusammenhang untereinander: „I fear to become old and weak“ zum Beispiel oder „I feel the strong sensation of being connected with everybody in the audience.“
Mit Kommunikation geht es spät los, und dann ist es die spezielle Form, daß einer eine Anfrage stellt und der andere sie befolgt oder zurückweist. „Could you walk towards me, very fast?“, heißt es. Gregor Henze, einziges Wuppertaler Ensemblemitglied heute und mit verbundenen Augen, stimmt zu, zögert aber (wohl wirklich verunsichert), stürmt schließlich doch  blind los („Trust me!“), wird aufgefangen, hört: „Thank you.“ Eine andere will ein albernes Lied hören, einer pfeift es ihr. „Thank you.“
Letzte Stufen der Kommunikation, jedenfalls für diesen Abend: A dirigiert B, und: A redet B redet C redet D redet E. Sehr selektiv und auch nicht unbedingt ausgewogen erscheint diese Auswahl.
 
Was der Besucher abschließend nicht recht wiederfand in „Gedanken über weite Entfernungen“: Das war der poetisch-triste Grundton, wie er in der „morsen“-Reihe angeklungen war. „Da ist ein Glaskasten wo Leute drin sprechen“, hatte es in einem Text auf der eigenen „morsen“-Homepage geheißen, und weiter: „du denkst / ich hör sie nicht wegen der Scheibe / aber wenn sie aufgeht hörst du / immer noch nichts.“
Nur der Glaskasten ist auch auf der Bühne da. Ansonsten bleibt der Abend lebendes Lernobjekt – für Aktion und Reaktion, für Vertrauens-Übungen und was sonst noch passiert beim Theater.