Kant und die Kartoffel

von Victor Auburtin

Foto © w.r.wagner / pixelio.de
Kant und die Kartoffel
 
Mitten auf dem Bürgersteig der Kantstraße zu Charlottenburg liegt eine Kartoffel. Wahrscheinlich hat jemand sie eben jetzt verloren; denn es ist nicht anzunehmen, daß eine Kartoffel lange Zeit auf dem Bürgersteig liegenbleibt.
 
Der Friseurgehilfe in dem Friseurladen hat die Kartoffel erblickt: man sieht durch die Scheiben, wie er sich schnell die Hände abtrocknet, um hinauszueilen und sie zu holen. Der alte Herr mit der Brille hat die Kartoffel ebenfalls erblickt und beschleunigt seine Gangart. Aber ich habe einen Vorsprung, gegen den nicht aufzukommen ist: mit zwei Schritten bin ich bei der Kartoffel; hebe sie auf und tue sie in meine Aktenmappe ...
 
Diese Aktenmappen sind deshalb so außerordentlich vorteilhaft, weil niemand von außen erkennen kann, was sich darin befindet. Wer mich jetzt so mit der Aktenmappe dahingehen sieht, der denkt vielleicht, ich trage meine Otaviminen bei mir herum.
 
In Wirklichkeit enthält meine Aktenmappe: ein paar alte Zeitungen, die ich sammle, um sie im Kilo zu verkaufen; ferner den geräucherten Bückling für heute Abend; Platons Gastmahl in der vorzüglichen Ausgabe von G. Stallbaum; und jetzt also auch noch die Kartoffel aus der Kantstraße.
 
Das merkt von außen niemand; aber selbst wenn jemand das merken sollte, wäre es mir gleichgültig und würde vermutlich gar kein Aufsehen erregen. Alte Zeitungen, Bücklinge, Platons Gastmahl und Kartoffeln harmonieren jetzt gut miteinander und geben zusammen ein richtiges Bild von dem gegenwärtigen Zustand des deutschen Geisteslebens ...
 
Großer Immanuel Kant, du, in dessen Straße mir heute dieser glückliche Fund wurde, oh, halte auch fürderhin segenbringend die Hand über deiner schwer kämpfenden Gemeinde.
 


Victor Auburtin