Von Menschenwert und Menschenliebe

Hermann Schulz – „Flucht durch den Winter“

von Frank Becker

Von Menschenwert und Menschenliebe
 
In einem strengen Winter vor 68 Jahren neigte sich der mörderische Zweite Weltkrieg auf deutschem Boden seinem Ende zu. Die Völker Europas waren ausgeblutet, Menschen vieler Nationen entwurzelt, verschleppt, heimatlos. Das Reich der verblendeten nationalsozialistischen Phantasten brach endgültig zusammen, wurde zum Untergang des eigenen Volkes und zum Grab von Hoffnungen und ängstlichem Opportunismus.
 
In diese Situation führt „Flucht durch den Winter“, ein Jugend-Roman des Wuppertaler Autors Hermann Schulz. Der Stoff lehnt sich eng an wirkliche Schicksale an und ist, wenn auch „nur“ ein Roman, so doch eine Geschichte, die sich so hätte ereignen können. Das 14-jährige Mädchen Ännchen Schwalbe aus Lüneburg, dessen Vater von der SS wegen staatsfeindlicher Hetze „abgeholt“ worden ist und dessen Mutter kurz danach ebenfalls verschwand, wird aufs Land verschickt, kommt auf den Hof des wohlmeinenden Willi Fritsche, der Bürgermeister und Ortsbauernführer im Dorf Bredenbock ist. Ännchen findet sich in das neue Leben, das sie in ihrem Tagebuch festhält, und befreundet sich - nicht mit den Dorfkindern - sondern mit dem zur Zwangsarbeit verschleppten russischen Mädchen Anna Chochowa und dem gleichaltrigen schweigsamen Sergej.
 
Als durchsickert, dass die SS kurz vor Kriegsende noch die männlichen Zwangsarbeiter wegbringen will, um sie zu liquidieren, faßt das Mädchen einen Entschluß, der ihr Leben für immer verändert und das des jungen Russen rettet. Sie verhilft ihm nicht nur zur Flucht, sondern flieht mit ihm, um ihn als seine deutsche Begleiterin zu beschützen. Hermann Schulz versteht es, die zweiundsechzig gemeinsamen Tage und Nächte in Kälte und Angst, das Erleben und Durchleiden von Hunger, Durst, Fieber, Verrat und Gewalt, in denen aus Kindern beinahe Erwachsene werden, packend, erschütternd und mit großer menschlicher Wärme zu schildern. Dass die beiden schließlich von englischen Soldaten entdeckt und gepflegt werden, ist der erlösende Schlusspunkt einer Odyssee der Gefühle an den Grenzen der Leistungsfähigkeit jugendlicher Psyche. Die Kinder verlieren sich danach fast unmittelbar. Sie sind gerettet- miteinander, nun müssen sie ein jedes seinen eigenen Weg wiederfinden.
 
Bücher von solcher Heizenswärme ohne süßlichen Beigeschmack sind rar, von Hermann Schulz allerdings ist man sie gewohnt. Schon in „Iskender“ und „Sonnennebel“ bewies er seinen hohen Rang als literarischer Philanthrop. Mit „Flucht durch den Winter“ hat er sich erneut in die erste Riege deutscher Romanciers geschrieben - ein Buch, das man ohne abzusetzen liest, ein Lehrstück, dessen Botschaft von Aufrichtigkeit und Zivilcourage tief berührt.
 
Hermann Schulz – „Flucht durch den Winter“
2002 Carlsen Verlag, 199 Seiten, gebunden, 13,- €.
Weitere Informationen: www.carlsen.de