Ich bin kein Kondom, und das ist auch gut so

von Martin Hagemeyer

Ich bin kein Kondom, und das ist auch gut so
 
Warum wissen die immer alles so genau?“, wunderte sich einmal ein kluger Mensch. In der Tat: Selbstgewißheit begegnet allenthalben. Jeder ist sich sicher und besitzt letztgültige Positionen zu allem Möglichen. Sicher sein müssen aber nur Renten, Kondome und Atomkraftwerke - und man weiß, selbst da klappt es nicht. Da ein Großteil des menschlichen Wissens eigentlich nur Meinungen sind, ist dieser Eigensinn oft sachlich schief, dabei zumeist aber harmlos. Ungut werden Besserwisser erst dann, wenn sie Macht haben. Polizisten, Pädagogen und Politiker müssen qua Amt so tun, als wüßten sie tatsächlich irgendetwas besser, aber das ist nicht ungefährlich. Wäre ich zum Beispiel Diktator, würde ich als erstes Auktionshäuser, Apfelsinen mit Kernen und Germany’s Next Topmodel verbieten, weil ich dies alles für eine Frechheit halte, muß aber damit leben, daß mutmaßlich nicht jeder diese Einschätzung teilen wird.
 
Dabei sind Auktionen wirklich eine Frechheit. Schon als Kind konnte ich es nie akzeptieren, wie in diesen allgemein ja anerkannten Einrichtungen systematischer Druck ausgeübt wird, um völlig undurchdachte kostspielige Entscheidungen herbeizuführen. Eigentlich sind Auktionen daher nichts anderes als die Anrufshows bei „Neun Live“. „Nächster Posten auffe Liste, liebe Fernsehzuschauer: Mahagoni-Schreibtisch, Startgebot 20.000 Euro. Isch frare Sie an den Bildschirmen: Hat hier jemand noch mehr zu BIETEN? Der Hot Button, will sagen: mein Hämmerschen, kann hier jeden Moment zuschlagen.“ Aber Jürgen, Sie kennen Jürgen (früher „Big Brother“, heute „Neun Live“), deshalb an Sotheby’s vermitteln? Ich weiß ja nicht. Ich nicht.
 
Besonders hartnäckig werden Meinungen immer dann, wenn sie „wissenschaftlich erwiesen“ sind. Dabei gibt es erwiesenermaßen viel erwiesenen Blödsinn. Eva Herman zum Beispiel hat das erkannt und unterfüttert ihre Attacken gegen die Moderne daher gern mit Forschungen und Studien. Der Erwiesenheits-Fetischismus führt auch zu Resultaten, die vermutlich nicht falsch sind, nur nicht sehr erhellend. Mancher Zeitgenosse freut sich, wenn er Ortsunkundigen mitteilen kann, in welcher Lokalität es „richtig, richtig guten Milchkaffee“ gibt. Verbraucherverbände perfektionieren dieses Prinzip: Kürzlich testete der ADAC deutsche Schulbusse. Ergebnis: Der beste Schulbus Deutschlands ist die Linie 543 in Wattenbek-Einfeld in Schleswig-Holstein. ADAC: „Da stimmte einfach alles.“ Wer also einmal so richtig, richtig gut Bus fahren möchte: Bitte fahren Sie nach Wattenbek-Einfeld. So funktioniert das System des Rankings.
 
Das Sammeln gesicherter Tatsachen kann auch zum Selbstläufer werden. Durch einen Zufall gelangte ich neulich auf eine Internetseite, die mir folgende Information offerierte: „Sie haben das Wort ‚Krankenversicherung‘ falsch geschrieben, nämlich ‚Krakenversicherung‘. Wenn Sie erfahren wollen, wie oft das Wort ‚Krankenversicherung‘ falsch geschrieben wurde und welche weiteren Kombinationen möglich sind, können Sie sich unsere ausführliche Statistik ansehen.“ Tatsachen lieben es nicht, nach Sinn befragt zu werden. Manchmal sind sie aber sogar im Irrtum: Woher wollen diese ansonsten sicherlich gut informierten Wissenschaftler wissen, ob ich nicht gerade in der Tat die neunzehn Beine meines Kraken gegen Beinbruch versichern möchte?
 
Nett hingegen ist es, wenn ehrliche Irrtümer durch einen selbstsicheren Tonfall nicht bemerkt werden. In einem neu eröffneten hiesigen Modegeschäft versperrte die Umkleidekabinen wochenlang ein Schild mit dem Hinweis: „Diese Kabinen sind zur Zeit nicht besetzt.“ Üblicherweise halte ich es zum Anprobieren eigentlich geradezu für einen Vorteil von Umkleidekabinen, wenn sie von niemandem besetzt sind – von wenigen, hier nicht näher auszuführenden Ausnahmen vielleicht einmal abgesehen. In einem anderen Laden erklang einmal die Durchsage: „Der Fahrer des Wagens mit diesem und jenem Kennzeichen wird zu seinem Fahrzeug gebeten. Er hat vergessen, die Tür aufzulassen.“
 
Unappetitlich kann es werden, wenn Menschen ihre Selbstgewißheit auf Kosten anderer ausbreiten. Vor einiger Zeit ging ich meiner roten Umhängetasche verlustig. Dazu kam es, nachdem ich sie an der Bibliothek zwar durchaus in einem Schließfach deponiert hatte, ohne dieses allerdings abzuschließen. Dieserart um einige Bücher sowie eine Digitalkamera gebracht (wobei ich den Aufnahmen mehr hinterher trauerte als dem Gerät), hätte ich mich auf hämische Kommentare gefaßt machen müssen – wenn ich keinen Wert darauf legte, meinen Bekanntenkreis aus netten Menschen zusammenzusetzen. Wer weniger Glück hat, bekommt in solchen Situationen Aussagen zu hören wie: „Tut mir echt leid, aber irgendwo gehört Dummheit auch bestraft.“ Wer derartige Sätze mag, sagt auch: „Hast du schon gehört? Jetzt hat der schon wieder vergessen, seine Autotür aufzulassen. Zwei-ein-halb Stun-den sperr- an-gel-weit ... - - - geschlossen. Ich hab's ja immer gesagt: Der Kerl wird senil.“
 
Hieran ist zutreffend, daß hämische Menschen selbst meist nicht dumm sind, genauer: Sie sind oft einfältig, aber nur selten naiv. Dies kann man auch täglich an der BILD-Zeitung beobachten, deren Leserschaft Naivität zuzuschreiben ein krasses Fehlurteil wäre. Ein BILD-Redakteur, der es wagte, dreimal in Folge eine Schlagzeile zu setzen, die weder mißtrauisch ist noch bösartig, würde vermutlich fristlos entlassen. BILD-Leser wissen genau Bescheid, und das ist das Schlimme an diesem Periodikum, nicht seine populäre Ausrichtung. Arglosigkeit macht sozialer als Schläue. Auch „Germany's Next Topmodel“ ist ja deshalb so fürchterlich, weil es ein idiotisches Frauenbild bedient, und nicht weil jeder es sieht.
 
Der Zyniker Friedrich Küppersbusch sagte übrigens einmal: „Marius Müller-Westernhagen lügt, wenn er das Maul aufmacht.“ Möglicherweise lügt aber eher Friedrich Küppersbusch, wenn er das Maul aufmacht; denn Westernhagens Satz in seiner nach wie vor unschlagbaren Achtziger-Hymne „Freiheit“ namens „Der Mensch ist leider nicht naiv“ ist nicht gelogen, sondern wahr.
 
 
© Martin Hagemeyer