"Schwanensee" mit Hindernissen

Ein offenes Wort

von Peter Bilsing

SCHWANENSEE anno 53 

Historischer Edelkitsch vom Feinsten und
so richtig zum Schwelgen -  wenn man durfte !

Gastspiel des Moskauer Stanislawsky-Balletts

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf 3.11.2007
(Dreiaktige Burmeisterfassung / UA-PR 25.4.1953)


Trügerische Vorfreude

Auf Einladung des Düsseldorfer Oberbürgermeisters geht auch der bärbeißigste Kritiker besonders gerne ins Theater; es ist ja auch eine Ehre! Daneben freut man sich an solch seltenen Abenden natürlich besonders darüber, endlich einmal wieder - ohne Chronistenpflicht - einen schönen Abend genießen zu dürfen. Ach, was hätte es idyllisch sein können! Allein schon deshalb, weil ich modernen Schwanensee-Choreografien (wie u.a. z.Zt. am Essener Nachbarhaus) doch ziemlich reserviert gegenüberstehe.

Gestern war ein Abend angesagt, wo „Schwanensee“ in der originalen Burmeister-Choreografie von 1953 das Publikum mal so richtig zum träumerischen Schwelgen bringen sollte. Als wenn ein altes Märchenbuch aufgeschlagen wird. Herrlich sollte es werden! Doch wie es so oft im Leben ist, wenn sich jemand besonders auf etwas freut, hat er die Rechnung  ohne den Wirt gemacht… Und Wirte gab es annähernd 1350 im vollbesetzten Düsseldorfer Opernhaus. Die meisten waren akzeptabel und konnten sich adäquat unauffällig benehmen. Immerhin war „Event“ angesagt. Für mich leider Dantes „Inferno“!
Vielleicht war es auch eine göttliche Bestrafung für meine oberlehrerhafte Glosse „Unsitten in der Oper“, denn gestern Abend kam einmal wieder viel, wenn nicht alles davon live zusammen. Wotan war zum Schabernack aufgelegt. Das Stichwort „Rotzlöffel“ wird den Großteil dieser Sottise prägen - leider:

"Engelchen" in Reihe 9

„Held“ meiner wahren Geschichte ist ein kleines, süßes, ca. 6-jähriges Mädel (Parkett rechts, Reihe 9 - Platz 163/165). Eigentlich kein „Rotzlöffel“, oder „Rotziges“, wie man in Düsseldorf sagt, sondern ein hübsch zurecht gemachtes und adrett gekleidetes Engelchen, welches von einer unsensiblen Mutter - wohl mangels spätabendlichen Kinderhortes - augenscheinlich völlig unvorbereitet in den „Schwanensee“ getaucht wurde. Gala-Ballett als Kindermädchen für Begüterte, oder sollten das etwa preiswerte Hauskarten gewesen sein? Egal – die variantenreiche Mobilität der Kleinen war frappierend. Weniger störte, daß die Mutter ihr auch noch ständig den komplizierten Inhalt erklärte.

Nun ist es in der Düsseldorfer Oper leider so, daß der Besucher im kaum ansteigenden Parkett unter Körpergröße 1,75 eigentlich permanent, bei nicht-japanischem Vorsitzenden per saldo, Sichtbehinderung „genießt“. Wie verzweifelt muß sich da erst so ein 1-Meter-Zwanzig-Knirps hinter lauter Sitzriesen fühlen. Doch dafür bietet die Rheinoper immerhin seit einigen kinderfreundlicheren Jahren separate Sitzkissen an. Immerhin besorgte das „fürsorgliche“ Muttertier ihrem Sprößlienchen nach dem ersten Akt und diskreteren Hinweisen der umsitzenden rund 20 Personen schließlich diese Sicht- und Sitzhilfe. „Jetzt wird endlich Ruhe sein!“, so mein sichtlich genervter Nachbar. Der Mann sprach uns allen aus der hoffnungsvollen Seele. Man will ja nicht gleich als Kinderhasser gelten.

Die kommende Pawlova?

Erratio diabolico!! Jetzt ging´s erst richtig los. Nun entdeckte unser Schatzilein die wunderbare Möglichkeit, die nun mal halt so ein großes dickes Sitzkissen für talentierte Jungsportler bietet: Die wunderbare Welt des Trampolinspringens. Heia jupheidi – das war ja wie zu Hause. Welche Freude! „Mama! Oper ist suppi!!“
Dagegen hatte sich die Kleine im ersten Akt noch richtig zurückgehalten. Gab es vorher wenigstens noch einige ruhige Minuten, wenn sich die Süße zur Freude der Hintersitzer wenigsten gelegentlich („Buhuh - schau her Mama, wo bin ich?“) unter ihrem Sitz versteckt hatte, wurde im 2.Akt unsere kleine Königin geradezu sprunghaft ständig sichtbar. Man kann sagen, sie blühte richtig auf. Den mittlerweile schon zunehmend ärgerlicher werdenden Beschwerden unseres Leidenskollektivs begegnete die Mutter mit einem sicherlich ehrlich gemeinten „Ja, ja ein Talent meine Kleine - die will halt ständig mittanzen…hehe!“

Da war dann angesichts der Tatsache, daß wir wohl hier die zukünftige Anna Pavlowa erleben durften, die Empörung etwas gedämpft – nicht aber die Bewegungsfreude unseres Schnuckelchens! Hegten wir noch die bare Hoffnung, daß der Zwerg wenigstens im Dritten Akt müde werde und uns endlich die herrlichen Schwäne genießen lasse, wurden wir realiter eines anderen belehrt. Manche Kinder werden halt um 22.00 h erst richtig munter. Wir hatten natürlich genau diese Ausnahme von den 10.000 friedvollen anderen erwischt. Pech! Schluchzend und weinend fiebern wir dem dritten Akt entgegen.

Exodus der Unbedarften

Zu diesem Zeitpunkt (3.Akt. 22.15 h) waren allerdings nicht wenige „Ballettfreunde und Fachleute“ schon gegangen. Vielleicht nicht unbedingt aus Ärger über ähnliche reizende Sitznachbarn, sondern eher, weil man in der örtlichen Tagespresse - und solcher glaubt man halt blind, egal was im Programmheft steht! - gelesen hatte: Ende 22.00 h! Selbst den dezent gehauchten Worten der angesichts dieses frühen Menschenschwalles sichtbar überraschten Garderobieren: „Es ist aber doch noch lange nicht zu Ende“ wurde nicht geglaubt - insbesondere angesichts der langen Kette geldgieriger Taxifahrer, die – ebenfalls fehlinformiert – bereits draußen hupend warteten. Hinzu kamen jene Privat-Chauffeure, die ihre Angehörigen selbstverständlich ebenfalls „pünktlich“ abholen wollten und heftig gestikulierend mit der anderen Seite der Familie (die sich logischerweise ja noch im Inneren des hehren Opernhauses aufhielt und Schwanensee zu Ende sehen wollte) mobiltelefonisch konferierten. Sie werden von diesem unverhofften Verkehrschaos auf der Heine-Allee sicherlich morgen in den Tageszeitungen lesen. Viel Spaß. Das ist die wahre Ursache!

Hier hört jetzt der Spaß auf, wenn ich an dieser Stelle drei Fragen zu stellen wage:

- Wie blöd, egozentrisch, naiv und rücksichtslos können eigentlich Eltern heutzutage sein?

- Wie unbedarft ist ein Publikum, welches ein dreiaktiges Ballett (eigentlich sind es 4 Akte) mit angegebenen 2 Pausen und einer Netto-Musik von beinahe 140 Minuten schon nach 2,5 Stunden, zumal bei solch hohen Eintrittspreisen, herdenartig vorzeitig verläßt?

- Wo bitte ist der Minimalservice der Rheinoper, die sich sogar selbst auch im Programmheft verschätzt hat? Angekündigtes Ende 22.30 h – tatsächliches Ende gegen 23.00 h! Hätte man nicht wenigstens ein paar Reiter aufstellen oder Zettel kopieren können, um das verehrte Publikum auf solche Divergenzen hinzuweisen? Soviel Zeit wäre nach der Erfahrung der Nachmittagsvorstellung sicher übrig gewesen!

Wer derartig kritisiert, muß auch Verbesserungsvorschläge machen. Hier sind derer drei:

a) Die Eintrittskarte wird zukünftig erst ausgehändigt, wenn jeder Besucher schriftlich bestätigt, das Programmheft gelesen und keine Fragen mehr an das selbstverständlich an jedem Abend anwesende Dramaturgen- oder Musikpädagogenteam zu haben.

b) Eltern mit kleinen Kindern kommen nur noch ins Auditorium, wenn sie einen Pfand in Höhe von 100 Euro pro Balg beim Türsteher hinterlegen: Dieses wird nur zurückgezahlt, wenn die Sitznachbarn am Ende der Vorstellung dies wohlwollend abnicken. Ansonsten wird das Geld von den Gestressten, quasi als Schmerzengeld, hinterher veralkoholisiert. Bei Schulklassen zahlt der Lehrer!

c) Abendspielleiter und Dirigent bestätigen schriftlich und verbürgen sich dafür im Namen des Generalintendanten auf mehreren Aushängen, daß die Aufführung tatsächlich um Null-Uhr X endet. Für jedes überzogene 5-Minuten-Intervall gibt es ein Freigetränk, ab 15 Minuten hinterher ein Gratis-Buffet.

Zum guten Schluß genüge ich wenigstens marginal noch der eigentlich nicht vorgesehenen Chronistenpflicht:

Es war ein großer Ballettabend von einem absolut und in praktisch jeder Hinsicht überzeugenden Profi-Ensemble mit Solotänzern, die nicht nur in Sprungkraft und Pirouettenvermögen, sondern auch durch die geradezu fließende Leichtigkeit von Hebungen die Gravitation scheinbar im Schwerelosen wandelten. Dazu waren traumhaft schöne alte klassische Kostüme zu sehen, ein bezaubernd kitschig-schönes Bühnenbild und ein Ensemble von 24 weißen Tutu-Schwänchen, die das Herz zum Weinen brachten – einfach wunderbar! Den „Pas de quatre“ der vier kleinen Schwäne habe ich noch nie so virtuos und exakt gesehen, und die gelegentlich etwas trägen Düsseldorfer Musiker wurden von Felix Korobov mit geradezu athletischem Einsatz in ein derart feuriges Tschaikowsky-Furioso gepeitscht, daß manchem im Orchester Hören und Sehen verging. Man sollte versuchen, den jungen Maestro schnellstens ans Haus zu verpflichten, bevor es andere tun. Hier wächst ein ganz großer Dirigent heran.

Schwanensee

Foto © Veranstalter

Großes Ballett in drei Akten
Musik: Peter I. Tschaikowsky
Libretto: Vladimir Begitschev und Wasili Gelzer
Choreographie: Vladimir Burmeister
Choreographie Akt II: Lew Iwanov / Pjotr Gusev
Bühne: Vladimir Arefjev
Dirigent: Felix Korobov
Es spielen die Düsseldorfer Symphoniker.

Weitere Informationen unter: www.rheinoper.de
Lesen sie auch: www.musenblaetter.de