Ein Gottsucher mit der Kamera
Watt-Fotos des Bauhaus-Künstlers Alfred Ehrhardt in Berlin
Von Rainer K. Wick
Im Jahr 2002 wurde in Köln, der Stadt der „photokina“ und Sitz der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh), die Alfred Ehrhardt Stiftung gegründet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Nachlaß eines Künstlers zu pflegen, zu erforschen und öffentlich zugänglich zu machen, der schwerpunktmäßig als Fotograf und Filmemacher im Umfeld des Bauhauses hervorgetreten ist. 2010 ist die Stiftung nach Berlin in die unmittelbare Nähe der S-Bahn-Station Oranienburger Straße übergesiedelt, wo sie jetzt in einer exquisiten Bilderschau das erste große Fotoprojekt Ehrhardts (dem zahlreiche andere nachfolgten), nämlich Aufnahmen zu dem 1937 erschienenen Bildband „Das Watt“, zeigt.
Prägende Eindrücke: das Bauhaus in Dessau
Obwohl der 1901 geborene und 1984 gestorbene Alfred Ehrhardt seit den 1930er Jahren ein erfolgreicher Fotograf und Kameramann war, ist sein Name heute nur Wenigen bekannt. Er war, modern gesprochen, ein Multitalent: Bevor er sich professionell der Fotografie und dem Film zuwandte, war er Organist, Chorleiter, Komponist, Maler und Kunsterzieher. Seine ästhetischen Vorstellungen wurden entscheidend vom Dessauer Bauhaus geprägt, was umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, daß er sich 1928/29 nur wenige Monate an dieser bedeutenden Kunstschule der Moderne aufgehalten hat. Wie sehr er dennoch von Bauhaus-Lehrern wie Josef Albers, Wassily Kandinsky und Paul Klee beeinflußt wurde, zeigt sein 1932 veröffentlichtes, jedoch schon kurz darauf von den Nazis verbotenes kunstpädagogisches Hauptwerk „Gestaltungslehre“, das geradezu als Transplantation ästhetischer Konzepte des Bauhauses in den schulischen Kunstunterricht gelesen werden kann. Von 1930 bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten 1933 leitete er an der Hamburger Landeskunstschule den nach dem Vorbild des Bauhauses neu eingerichteten Vorkurs, eine propädeutische Veranstaltung, die zur Einführung der Studierenden in elementare Gestaltungsprinzipien und Bildgesetzlichkeiten diente. Nach Hitlers Machtübernahme ohne feste Anstellung, erschloß sich Ehrhardt als neues Arbeitsgebiet die Naturfotografie. Politisch unverfänglich, fand er hier eine Nische, die es ihm ermöglichte, künstlerisch tätig zu sein, ohne mit der NS-Kunstdoktrin in Kollision zu geraten. Er unternahm erste Fotoexkursionen ins Watt, deren Ergebnisse er 1936 in einer Ausstellung in Hamburg zeigen konnte. Ein Jahr später kam im Verlag Heinrich Ellermann, Hamburg, das oben bereits erwähnte, heute antiquarisch sehr gesuchte Fotobuch „Das Watt“ mit einem Vorwort von Kurt Dingelstedt heraus. Anläßlich der aktuellen Ausstellung in der Alfred Ehrhardt Stiftung ist nun in exzellenter Druckqualität ein Faksimile-Reprint dieser Erstausgabe erschienen, der zum Preis von 45,- € angeboten wird.
Die in der Ausstellung gezeigten und im Buch ganzseitig abgebildeten Schwarzweiß-Fotografien beziehen ihre besondere Faszination aus der
Hilfreich dürften ihm dabei die Erfahrungen gewesen sein, die er am Bauhaus gesammelt hatte. Denn die Auseinandersetzung mit dem Material, seiner ästhetischen Erscheinung und seinen Eigenschaften, war, seitdem Johannes Itten im Jahr 1919 am Bauhaus den Vorkurs eingeführt hatte, ein Kernstück der propädeutischen Ausbildung der jungen Bauhäusler. 1929, kurz nachdem der ungarische Universalkünstler László Moholy-Nagy (Musenblätter 14.12.2010) das Bauhaus verlassen hatte und just in dem Jahr, als Ehrhardt ein Semester am Bauhaus studierte, erschien als Band 14 der „Bauhausbücher“ die bahnbrechende Schrift „Von Material zu Architektur“, eine radikal moderne Gestaltungslehre, in der sich Moholy u.a. um eine terminologische Klärung bzw. definitorische Differenzierung von Begriffen bemühte, die die stoffliche Erscheinungsweise der Materialien betreffen. Dabei unterschied er zwischen Struktur, dem inneren, molekularen Gefügezusammenhang eines Materials, Textur, der organisch gewachsenen Oberfläche, und Faktur (von lat. facere = machen), der durch Bearbeitung entstandenen Oberfläche. Diese Bearbeitung als „äußere Einwirkung“ könne – so Moholy – sowohl mechanisch, etwa durch manuelle oder maschinelle Arbeitsvorgänge, als auch durch Natureinflüsse erfolgen. Es war das Medium Fotografie, das diese Gleichsetzung „mechanisch – natürlich“ nahelegte, hatte Moholy-Nagy doch gesehen, das die unterschiedlichen Oberflächen – seien sie manuell und/oder maschinell geschaffen oder durch Natureinwirkung entstanden – je nach Standort oder Lichtverhältnissen die gleiche Erscheinungsform zeigen können, und es ist kein Zufall, daß er sich in seinem Buch zur Illustration dieser Phänomene tatsächlich fotografischer Beispiele bedient hat.
Gottsuche mit der Kamera
Schließt man sich Moholy-Nagys Begrifflichkeit an, so zeigen Ehrhardts Fotos aus dem Wattenmeer im strengen Sinne keine „Strukturen“,
Das Wirken dieser Kräfte fotografisch zu erfassen, war für Ehrhardt mehr als eine formalästhetische Angelegenheit. Eher wird man dem Künstler, der auch als Naturphilosoph mit der Kamera tituliert worden ist, gerecht, wenn man ihn als Gottsucher mit den Mitteln der Fotografie bezeichnet. Im kosmischen Geschehen, wie es sich im Wattenmeer als aus Sand geformten Wellenfakturen, als reizvoll geriffelte Linien- und Flächengebilde, manifestiert, sah er die Signatur des göttlichen Schöpfungsaktes und „die gleiche Gotteskraft“, die den Menschen selbst durchdringt. Hier erfährt die nüchtern registrierende Fotografie der Neuen Sachlichkeit, wie sie in den 1920er Jahren maßgeblich von Albert Renger-Patzsch vertreten wurde, eine geistige Fundierung, ja eine metaphysische Überhöhung. Und auch die Maximen der mit der Neuen Sachlichkeit rivalisierenden Fotografie des sog. Neuen Sehens mit ihren radikalen Naheinstellungen, ungewohnten Perspektiven und unkonventionellen Kompositionsprinzipien, wie Moholy-Nagy sie exemplarisch vorgeführt hat, waren für Ehrhardt nicht ästhetischer Selbstzweck oder Instrumente zur Konditionierung eines befreiten und erweiterten Wahrnehmens, sondern dienten, wie er sich ausgedrückt hat, der Offenbarung des „Wesentlichen der Dinge“. Daß eine so verstandene und praktizierte Fotografie „ein hohes Maß von Takt und Ehrfurcht … den realen Erscheinungen unserer Umwelt gegenüber“ voraussetzte, war für ihn eine Selbstverständlichkeit – anders als in unseren Tagen, in denen gigantische Offshore-Windparks die norddeutsche Küstenlandschaft wenn nicht ökologisch gefährden, so aber doch visuell verschandeln.
Wer sich näher mit Alfred Ehrhardt und seinem facettenreichen Œuvre befassen möchte, kann abgesehen von dem oben genannten Reprint des Watt-Buches (Éditions Xavier Barral, Paris 2014) auf folgende Titel zurückgreifen: Katalogbuch „Alfred Ehrhardt“, hrsg. v. Christine Hopfengart und Christiane Stahl (Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2001), und vor allem auf die exzellente, von der DGPh preisgekrönte Dissertation „Alfred Ehrhardt. Naturphilosoph mit der Kamera“ von Christiane Stahl, die als Leiterin der Alfred Ehrhardt Stiftung die aktuelle Watt-Ausstellung eingerichtet hat (Reimer Verlag, Berlin 2007).
Alfred Ehrhardt: Das Watt - Bis 27. April 2014
Alfred-Ehrhardt-Stiftung - Auguststraße 75 - 10117 Berlin
030-20095333
alle Fotos © Alfred Ehrhardt Stiftung, Berlin
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