Diskrete Sekrete (3)
Glossen zu literarischen Taschentüchern
von Andreas Steffens
Einer hebt ein Taschentuch auf und bekommt eine Ohrfeige
oder
Die Urszene einer literarischen Revolution
Revolutionen beginnen unscheinbar. Heinrich von Kleist verstand es in seiner dramatisch übersteigerten Einbildungskraft, es plausibel erscheinen zu lassen, die Französische Revolution aus dem Zucken einer Oberlippe entstehen zu sehen.
Daß die literarische Revolution des Surrealismus aus einem fallengelassenen Taschentuch hervorging, muß man wissen; es ist zu unwahrscheinlich, es in freier Phantasieanstrengung zu vermuten, es sei denn in einem noch unwahrscheinlicheren Fall von identischer Duplizität eines historischen Momentes.
Auf dem Boulevard, der von der Madeleine zur Oper führt, wurde ein dicker Herr mittleren Alters, durch nichts sonst merkwürdig als durch seine ungewöhnliche Korpulenz, von einem mageren Herrn angehalten, der ihm lächelnd und jedenfalls glaube ich, ohne an was Böses zu denken, ein Taschentuch übergab, das der Dicke hatte fallen lassen. Dieser dankte ohne viel Redensarten und wollte seinen Weg fortsetzen, als er sich plötzlich zu dem Mageren neigte, wie um eine Auskunft bittend, die dieser ihm geben sollte; denn der dicke Herr zog sofort Tintenfaß und Feder aus der Tasche und reichte beides mit einem Briefumschlag, den er bishin in der Hand gehalten hatte, dem Mageren. Die Vorübergehenden konnten sehen, wie dieser alsbald eine Adresse auf den Umschlag schrieb. - Hier aber beginnt das Sonderbare der Geschichte, das gleichwohl keine Zeitung gebracht hat: Der magere Herr, der Feder und Tinte zurückgab, hatte noch nicht Zeit für ein lächelndes Adieu gehabt, als der Dicke ihm zum Zeichen des Dankes eine Ohrfeige versetzte. Worauf er in einen Wagen stieg und verschwand, bevor auch nur einer der Zuschauer (darunter ich selbst) sich von der Überraschung erholt hatte noch einem eingefallen wäre, den Menschen festzuhalten.
So liest sich in Franz Bleis Übersetzung von 1919 die Eingangsszene zu André Gides Farce Der schlecht gefesselte Prometheus. Die sich anschließende Plauderei, in die der Kellner des Cafés, in dem der von seinem Kaukasus auf den Pariser Boulevard herabgestiegene Prometheus sich als Beobachter des mondänen Treibens niedergelassen hatte, ihn verwickelt, gibt dem Leser den Aufschluß, was es mit dieser Szene auf sich habe.
Kellner sei er nicht eigentlich, das mache er nur aus Liebhaberei. Tatsächlich sei er ein Beobachter, einer, der zwischen den anderen, die an seinen Tischen sitzen, Beziehungen herstelle, indem er ihre Konversation dirigiere. Ein Motiv dafür habe er nicht, außer das des Vergnügens. Sie werden mich fragen, was mir das einbringt? - Ganz und gar nichts. Es ist mein Vergnügen, Beziehungen zu schaffen... O! nicht für mich… nein, so wie, möchte man sagen, etwas, das man gratis abgibt, eine Gratistätigkeit, eine Gratishandlung!
Im deutschen klingt diese Gratishandlung nicht halb so geheimnisvoll bedeutend wie der acte gratuit im französischen Original, Weshalb Elisabeth Lenk zu Recht in ihrem großen Essay über >Ethik des Ästhetischen am Beispiel des acte gratuit< (Bern 1991) auf der Unübersetzbarkeit dieses surrealistischen Grundbegriffes bestanden hat. Mit ihrer Bemerkung: Nur der unberechenbare Mensch wäre frei, holt sie die gedachte unbegründete Handlung aus dem Dunkel der Willkür ins Licht einer Motivation des Handelns, die seinen offenbaren Absichten in einer tieferen Schicht der Leitung zugrundeliegen mag, oder es sollte.
Gides mit Prometheus plaudernder Kellner nimmt selbst die Weiterung ins Anthropologische vor. Ich habe lange gedacht, das sei es, was den Menschen vom Tiere unterscheidet - eine Gratistätigkeit. Ich nannte den Menschen: das Tier, das einer Gratistätigkeit fähig; - aber spater habe ich das Gegenteil gedacht: dass er das einzige Wesen ist, unfähig etwas umsonst zu tun; - umsonst! denken Sie mal; ohne Vernunft - ja, gut, das gebe ich Ihnen zu ~ aber ohne Grund: dazu ist er unfähig! Unfähig!
Erst diese Unfähigkeit zu durchbrechen und das Grundlose zu tun, das keinerlei Absicht hat, die es auf irgendetwas außerhalb der Tat anlegte, gibt ihm seine Freiheit zurück. Sie müssen nicht vergessen, nicht um eine Tätigkeit, die nichts einbringt, handelt es sich, denn ohne das... nein, eine umsonst! ein Akt, der durch nichts motiviert ist. Verstehen Sie? Nicht Interesse, nicht Leidenschaft, Nichts. Die interesselose uninteressierte Tat, geboren aus sich selber. Ohne Zweck, ohne Meister. Die freie Tat, die Autochtontat.
So blank in ihrer Absichtslosigkeit wie das Taschentuch vermutlich gewesen ist, das zum Vehikel solcher Tat wurde, in einem Vorgang, den der Kellner dem längst gelangweilten Prometheus erzählt. Mein Freund kommt eines Morgens den Boulevard herunter, mit einem fünfhundert Francsschein in einem Couvert und einer bereitgehaltenen Ohrfeige in der Hand. Es handelt sich darum, einen zu finden ohne ihn sich auszusuchen. Also, auf der Straße läßt er sein Taschentuch fallen und zu dem, der es aufhebt (der gutmütig ist, weil er es aufhebt) sagt der Millionär: - Entschuldigen Sie, mein Herr, sollen Sie vielleicht jemanden kennen? Der andere: ja, mehrere. Der Millionär: Dann haben Sie, hoffe ich, die Güte und schreiben seinen Namen auf diesen Umschlag; hier ist Tisch, Tinte, Feder... Der andere schreibt als ein Gutrnütiger; dann: Bitte, möchten Sie mir jetzt erklären...? Der Millionär antwortet: - Das ist ein Prinzip; dann (ich vergaß zu erwähnen, daß er sehr stark ist) haut er ihm die Ohrfeige ins Gesicht, die er in der Hand trug, ruft einen Fiaker an und verschwindet. Verstehen Sie? Zwei einfach geschenkte Taten auf einmal! Dieser fünfhundert Franksschein an eine Adresse, die er nicht gewählt hat und diese Ohrfeige, für einen, der sie sich ganz allein gewählt hat, indem er ihm das Taschentuch aufhob. Sagen Sie, ist das nicht etwa gratis und geschenkt?
In seiner Unscheinbarkeit bietet das kleine Utensil sich der Komplexion, dem Experiment, ja der Verschwörung geradezu an. So neutral, wie es sich gegenüber den Flüssigkeiten verhält, die es aufnehmen kann und die aufzunehmen es jeweils gedacht sein mag, so verwendungsfähig ist das Taschentuch für Operationen aller Art.
Unter der Voraussetzung allerdings, daß die prinzipielle Neutralität im besonderen Fall in einer ganz bestimmten Bedeutung aufgehoben wird.
Darüber unterrichtet ein berühmterer Fall.
(demnächst an dieser Stelle!)
© Andreas Steffens
Redaktion: Frank Becker
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