Auf den Spuren der Warum immer nur den Spuren eines Goethe, Schiller oder anderen Dichters folgen, wo diese doch Figuren geschaffen haben, die dem Leser mehr am Herzen liegen als deren Erfinder? Das Schicksal der Emma Bovary, das Gustave Flaubert in seinem Roman erzählt, hat Generationen von Lesern und Kinobesuchern gerührt, hat sie Tränen gekostet in den Lese- und Kinosesseln. Im Herzen der Normandie hat Madame Bovary gelebt, und die kleine Stadt Ry feiert das Jahr über seine berühmteste Bürgerin so, als hätte sie wirklich gelebt. Nur eine gute Stunde haben wir von Paris aus in Richtung Norden gebraucht, um dort anzukommen, haben im örtlichen „Office de Tourisme“ an der Place Flaubert einen Plan erstanden, der den „Parcours Emma Bovary“ beschreibt. Wer sich lieber einer Gruppe anschließt, für den organisiert das Fremdenverkehrsamt Radtouren, Wanderungen, gar Autorallyes nicht auf den Spuren Flauberts, sondern der Bovary. Fünfzehn Etappen der „Promenade im Land der Emma Bovary“ führen an Orte, an denen Delphine Delamare gelebt hat und an solche, an denen Flaubert seine Emma hat leben und lieben lassen. An jeder Station erklärt uns eine Tafel das Geschehen von einst. Die Rundreise auf den Spuren der beiden Frauen geht durch sattgrünen Auen dreier Flüsse, Crevon, Heronchelle und Andelle, weshalb die Region sich auch „das Land der drei Täler“ nennt. Die schmalen Gewässer winden sich durch die dünnbesiedelte Landschaft, fließen zur Seine, um im Meer der Normandie zu enden. Versteckte Dörfer werden von den Flüssen umschlungen. Sie sind Etappenziele der „Tour de Bovary“ von fünfzig Kilometern durch das flache Land, die wir so auch gemächlich mit dem Fahrrad, das wir im Restaurant „L’Hirondelle“ für den Tag gemietet haben, angehen können. Sie beginnt in Ry, dem Flaubert im Roman den Namen Yonville-l’Abbaye verpasst hat und das wie er schreibt nur eine Straße besitzt, „lang wie ein Gewehrlauf, gesäumt von der Kirche, dem Friedhof, der Apotheke, dem Rathaus und einem Gasthaus". Erinnert man sich an die Romanlektüre und belebt zudem die Phantasie, so finden wir neben dem Rathaus das Haus des Apothekers Homais, die ehemalige Pharmacie Jouanne, die heute eine Geschenke-Boutique beherbergt, sowie das Gasthaus „Zum goldenen Löwen“. Bevor wir Ry verlassen, suchen wir noch das Grab der Delamare auf dem Friedhof neben der spitztürmigen Kirche auf, dann folgen wir der sich in die Landschaft hinein windenden Crevon, die in Flauberts Roman Riuelle genannt ist, erreichen Blainville, das im übrigen Geburtsort des Malers Marcel Duchamp ist, und dann Saint German-des Essourts. Hier wundern wir uns über die überbordenden Kressenbeete, die von den unzähligen Gewässern im Dorf profitieren, erfahren auf einem Schild am Straßenrand: hier lebte einst eine gewisse Augustine Ménage, die Dienerin der Delamares, die Flaubert zur Felicité der Bovarys verwandelt hat. Dorf an Dorf reiht sich den Fluß entlang, Flecken an Flecken, wo Ruhe und Beschaulichkeit durch nichts gestört werden. Wir durchqueren Parkanlagen und Wälder wie den Bois Guilbert, gelangen dann nach Heronchelles, das sich dem gleichnamigen Fluß anschmiegt. Es war Heimat des Gastwirts Therain, der als Hivert die Kutsche mit dem Namen „Schwalbe“ lenkte, die Emma Bovary jeden Donnerstag nach Rouen zum Rendez-vous mit ihren Liebhaber Léon brachte. Vergessen wir für eine Weile die Bovary, genießen einfach die ursprüngliche Landschaft, ruhen auf der leicht abschüssigen Wiese an einem Weiler, wollen nie mehr hier weg, so hat uns die Natur in ihre Arme genommen, raffen uns schließlich doch auf, besichtigen Burgen und Kirchen aus Zeiten, die vor Flaubert und seiner Heroine liegen, um schließlich in Le Héron beim Schloß des Marquis von Pomereu anzukommen. Hier lernte Flaubert in seiner Jugend selbst wie dann auch Emma die Pracht und die Verlockung des mondänen Lebens kennen, als sie dorthin zum Ball eingeladen wird und sie die Begierde nach der großen Welt und ihrem schönen Schein überkommt, die sie immer weiter von ihrem Mann, dem Landarzt Charles Bovary entfernt, bis sie ihren Liebhaber findet.
Am Tag darauf werden wir weiter nach Rouen fahren, dem Schöpfer der „Bovary“ einen Besuch
© Jörg Aufenanger - zuerst erschienen in: "Frankfurter Rundschau“ am 3.11.07 |