Der Spott der kleinen Dinge

Poldi lieb!

von Lars von der Gönna

© Heiko Sakurai
Poldi lieb!
 
Neulich hat sich die Frau im Bus wieder mit ihrem Hund unterhalten. »Mutti muß jetzt noch zu Rewe«, sagte sie. Der Hund schwieg. Aber die Frau verhielt sich, als hätte er gesagt: »Was, Mutti? Zu Rewe?« Sie sagte nämlich nickend: »Ja, zu Rewe muß die Mutti noch, zu Rewe.« Ich kenne die Frau nur aus dem Bus; sie ist eine unauffällige Rentnerin mit beigen Gesundheitsschuhen. Bei Regen trägt sie ein Kopftuch aus Plastik. Sie ist so normal, da sitzt der Schock umso tiefer, wenn jemand Stimmen zu hören scheint: aus einem Rehpinscher.
Als ich die Frau zum ersten Mal erlebt habe und sie dem Tier erklärte, was ihr Arzt plane (»Der untersucht die Mutti!«), suchte ich Rat bei meinem Freund Martin. Martin ist Kommunikationswissenschaftler. Martin steckte sich eine rote Gauloises an, kniff die Augen zu und sagte: »Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte!« Martin erzählte von seinem Sittich Poldi. Martin liebte Poldi. Poldi konnte ein bißchen sprechen. »Poldi lieb!« zum Beispiel. Bis Martins dicker Cousin sich aus Versehen auf Poldi setzte. Martin trat die Zigarette aus und sagte: »Ich war acht, und es geschah während einer Runde ›Spiel des Lebens‹.«
Tränen traten mir in die Augen, wegen Poldi, aber auch, weil ich im Spiel des Lebens so oft verliere. »Denk darüber nach«, sagte Martin und leerte das Bier von seinem Lieblingskiosk. Der indische Besitzer sagt zu Martin »Chef«.
Ich fragte mich, ob Poldi zu retten gewesen wäre, wenn er mehr gesagt hätte als »Poldi lieb!«. Die Frau im Bus fragte den Hund: »Na, freust du dich auf zu Hause?« Ich habe Angst vor dem Tag, an dem die Tiere antworten.


© Lars von der Gönna - Aus dem Buch „Der Spott der kleinen Dinge“
mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Henselowsky Boschmann und der WAZ.