Die krumme Amsel

von Rudolf Engel

Foto © Rudolf Engel


Die krumme Amsel
 
Seit wir kalendarisch Winter haben, kommt jeden Morgen eine Amsel mit gebrochenem Rückgrat zu uns, tatsächlich: ja sie kommt, kommt zu Fuß über die Mauerkante der Veranda, denn richtig fliegen kann sie nicht mehr, nur noch flatternd ein wenig hoch hüpfen, gerade hoch genug, um es ins Futterkästchen zu schaffen.  Wir sehen sie ganz nah durchs Fenster, vom Frühstückstisch aus, eine traurige, gespenstische Gestalt, dem Glöckner von Notre Dame gleich, aber behäbig, guten Gemüts.
Sie nimmt ihre Morgenmahlzeit früh, wenn es noch dunkel ist und sie allein und ungestört fressen kann. Denn die andern geflügelten Wesen trauen sich noch nicht heran, weil der dicht daneben stehende hell erleuchtete Christbaum ihnen die Illusion der Gefahr von Feuer vermittelt. Für unsere hungernde Amsel von Notre Dame aber ist die Überwindung von Feuerangst geringer als das ständig aggressive Verjagtwerden durch die eigenen Leute.
Und uns animiert sie, trotz allen Fastengeboten des Advents, länger am Tisch zu verweilen und eine Schnitte mehr als nötig zu verzehren.
 
 
Rudolf Engel