Wunderliche Fata eines Autors

Johann Gottfried Schnabels "Die Insel Felsenburg" und seine anderen Werke beschäftigen eine literarische Gesellschaft

von Friederike Hagemeyer

Schnabel-Gesellschaft

„Wunderliche Fata“ eines Autors
und seiner Werke

Seit 15 Jahren sorgt die Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft für die Erforschung des Schnabel-Erbes

Name und Werk Johann Gottfried Schnabels dürften heute nur noch Germanisten und Liebhabern der Literatur des 18. Jahrhunderts geläufig sein. Vor ca. 250 Jahren dagegen war Schnabels Hauptwerk „Wunderliche Fata einiger See-Fahrer etc.“, veröffentlicht unter dem Pseudonym „Gisander“, ein Bestseller, das einzige Buch, das neben der Bibel in jedem Bürgerhaushalt vorhanden gewesen sei (Arno Schmidt). Auch Goethe berichtet, daß er das Werk in seiner Jugend sehr geschätzt habe.

Wohlgemerkt, die Betonung liegt hier auf „Werk“, denn für den Autor interessierte man sich damals nicht. Selbst Ludwig Tieck, der 1828 eine überarbeitete Neuausgabe veranlaßte und damit den Roman für das Publikum neu entdeckte, machte sich nicht die Mühe, nach dem Urheber dieses bedeutenden Werkes zu suchen. Allerdings schuf Tieck den Titel „Die Insel Felsenburg oder wunderliche Fata einiger Seefahrer“, unter dem der Roman bis heute zitiert wird.

Erst um 1880 wird das Pseudonym durch Adolf Stern (Hans Mayer) gelüftet und dahinter Johann Gottfried Schnabel, der Gräflich Stolbergische Kammerdiener und „Hofagent“, entdeckt. Wesentliche Lebensdaten bleiben jedoch bis heute im Dunkeln.

Ein geheimnisvoller Autor

Was wissen wir also über diesen Autor?
Johann Gottfried Schnabel wird am 7. November 1692 in Sandersdorf bei Bitterfeld geboren, wo sein Vater das Pfarramt bekleidet. Bereits 1694 sterben beide Eltern, und er lebt von da an vermutlich bei seinem Großvater. Belegt ist, daß er von 1702 bis 1706 die „Latina“ im Waisenhaus des August Hermann Francke (1663 – 1727) in Halle an der Saale besucht und anschließend von 1706 bis 1709 eine Lehre als Barbier durchläuft. Seine Praxiserfahrung bekommt er als Feldscher im Spanischen Erbfolgekrieg; nach eigenen Angaben nimmt er in direkter Umgebung des Prinzen Eugen von Savoyen (1663 – 1736) an den Feldzügen in den Niederlanden (1709 – 1712) teil. 1719 läßt er sich nachweislich als Barbiermeister in Querfurt nieder und wird als Mitbegründer der dortigen Barbierinnung genannt. 1721 heiratet er in Querfurt Johanna Sophia Dietrich; hier wird auch sein erster Sohn geboren.

Warum Schnabel 1724 mit seiner Familie in die kleine Residenzstadt Stolberg im Harz umzieht und dort Bürgerrechte erwirbt, kann nur vermutet werden; möglicherweise hat er seit seiner Zeit als Feldscher während des Krieges Verbindungen zu einem der Stolberger Grafen und erhofft sich eine Anstellung am Hof. Das gelingt 1729, als er zum Kammerdiener avanciert, später nennt er sich auch „Hofagent“. Aber ob diese Titel wirklich mit einem festen Gehalt verbunden waren? Wohl kaum. Wahrscheinlicher ist, daß Schnabel den Lebensunterhalt für sich und seine Familie hauptsächlich mit Schreiben verdienen muß.

Ab 1731 gibt er eine Zeitung heraus, die „Stolbergische Sammlung Neuer und Merckwürdiger

Welt-Geschichte“, die anfangs einmal, ab 1737 sogar zweimal wöchentlich erscheint. Schnabel muß sich bald ein engmaschiges Netz von Informanten geschaffen haben, um seine Leser so oft und regelmäßig mit neuen Nachrichten, Berichten und Rezensionen versorgen zu können. Über die entlegensten Weltgegenden informiert er, z.B. über die Dänisch-Hallesche Mission in Tranquebar (Indien) oder über die dänische Grönland-Mission des Hans Egede.

Daneben arbeitet Schnabel an seinem großen Roman „Wunderliche FATA einiger See-Fahrer, absonderlich ALBERTI JULII, eines gebohrnen Sachsens,........“, dessen erster Band 1731 in Nordhausen unter dem Pseudonym „Gisander“ erscheint. Der 2. Band folgt 1732, der 3. 1736 und der 4. und letzte Band erscheint 1743. Bis 1772 erlebt das Werk 26 Auflagen. 1732 verfaßt er einen Bericht über den Zug der protestantischen Salzburger Emigranten durch Stolberg, 1736 publiziert er eine Biographie über den Prinzen Eugen von Savoyen. 1738 erscheint anonym sein zweiter Roman „Der im Irr-Garten der Liebe herumtaumelnde CAVALIER“. Im selben Jahr stirbt Schnabels Gönner, Graf Christoph Friedrich zu Stolberg-Stolberg (*1672). Für den Autor der Insel Felsenburg zeichnet sich eine Krise ab, die 1744 in einer Katastrophe endet, als er aus seiner Unterkunft geworfen wird und buchstäblich mittellos auf der Straße steht. In dem einzigen bisher bekannten eigenhändigen Brief vom 2. April 1744 an Graf Christoph Ludwig zu Stolberg-Stolberg beklagt Schnabel seine verzweifelte Situation.

1750 wird in Frankfurt und Leipzig der höchstwahrscheinlich letzte Roman Schnabels, wieder unter dem Pseudonym „Gisander“, veröffentlicht „Der aus dem Mond gefallene und nachhero zur Sonne des Glücks gestiegene Printz etc.“. Danach verliert sich „Herrn Schnabels Spur“.

Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert droht Johann Gottfried Schnabel erneut in Vergessenheit zu geraten, denn anders ist kaum erklären, warum sich Arno Schmidt (1914 – 1979) veranlaßt sieht, die „Insel Felsenburg“ und ihren Autor ein weiteres mal für die Leser zu entdecken. In einem seiner Funk=Essays von 1956 macht er auf die „Wunderliche(n) Fata...“ aufmerksam, ein Werk, das „nach dem ‚Simplizissimus’ wieder  ... der erste deutsche Roman von globaler Wirkung ist“.

Arno Schmidt ist es auch, der 1992, 13 Jahre nach seinem Tode, bei der Gründung der Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft am 300. Geburtstag des Autors in Stolberg (Harz), Pate steht  -  jedenfalls für die bundesrepublikanischen Schnabelfreunde. In Stolberg selber war dessen bedeutender Bürger zu DDR-Zeiten vergessen, aber spätestens seit Peter Gugisch 1966 „Die Insel Felsenburg“ in Leipzig herausgegeben hatte, gab es auch in der DDR einen Kreis von Schnabelforschern.
Die politische Wende in Deutschland macht es möglich, daß nun ost- und westdeutsche Schnabelforscher und -freunde gemeinsam die Aufgabe in Angriff nehmen können, „Leben und Werk des Schriftstellers allgemein bekannt zu machen“ (Satzung).

Seit 15 Jahren sorgt die „Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft“ und insbesondere ihr rühriger Vorsitzender Gerd Schubert dafür, dass dieses Ziel nicht aus den Augen verloren wird. Und es sind Erfolge zu verzeichnen: Bedeutungsvoll in wissenschaftlicher Hinsicht ist der wiedergefundene eigenhändige Brief Schnabels von 1744 (s.o.) und das gerettete Stolberger „Bürgereidbuch“, in dem 1724 die Aufnahme Schnabels in die Stolberger Bürgerschaft dokumentiert ist.
Als Erfolg ist auch zu werten, daß Schnabel in der Stadt seines literarischen Wirkens nun kein Unbekannter mehr ist; zielsicher wird er als Aktivposten bei der Touristenwerbung für Stolberg eingesetzt. Unterstützt wird das nicht zuletzt durch die Jahresversammlungen der Schnabel-Gesellschaft, die ihre Tagungen satzungsgemäß jeweils Anfang November im Südharzstädtchen abhält.

Über alle Aktivitäten der literarischen Gesellschaft berichten die sorgfältig redigierten „Schnabeliana“; darin sind u.a. die Vorträge nachzulesen, die auf den wissenschaftlichen Tagungen gehalten werden. Entgegen anfänglicher Unkenrufe liegen bereits acht Bände vor, der neunte wird demnächst erscheinen.
Die Schnabelforschung ist alles andere als abgeschlossen, denn wesentliche Fragen sind bisher ungeklärt:
- Wann und wo starb Johann Gottfried Schnabel?
- Warum war Schnabel 1744 in eine so verzweifelte persönliche Situation geraten?
- Was hatte sich am Stolberger Hof abgespielt?
- Woher bezog Schnabel seine Informationen für die „Stolbergische Sammlung“?
- Welche Aufgaben hatte er ganz konkret am Stolberger Grafenhof?

Und darüber hinaus wird „Die Insel Felsenburg“ auch künftig für genügend Diskussionsstoff und immer neue Interpretationsansätze sorgen.

Die Johann-Gottfried-Schabel-Gesellschaft wird sich wie bisher diesen Fragen stellen und so darauf achten, daß weder Werk noch Autor je wieder vergessen werden.
So ganz nebenbei ist sie aber auch ein Beispiel für das geglückte Zusammenwachsen ost- und westdeutscher Forschungsaktivitäten - und das ist ganz besonders erfreulich.


Literatur:
Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg / Hrsg. von Volker Meid und Ingeborg Springer-Strand. Mit Ludwig Tiecks Vorrede zur Ausg. von 1828. Bibliographisch erg. Ausg. - Stuttgart : Reclam1998.
606 S. (Reclams Universalbibliothek, Nr. 8421)

Hans Mayer: Die alte und die neue epische Form: Johann Gottfried Schnabels Romane, in: Johann Gottfried Schnabel: die Insel Felsenburg. Nach der 1966 von Peter Gugisch hrsg. Ausg. - Frankfurt, M.: Insel-Verl. 1988 (Insel Taschenbuch 953)

Arno Schmidt: Herrn Schnabels Spur. Vom Gesetz der Tristaniten, in: Arno Schmidt: Nichts ist mir zu klein. Funk=Essays, Bd. 1. - Frankfurt, M.. Fischer Taschenbuchverl. 1998.


© 2007 Friedrike Hagemeyer für Musenblätter

Redaktion: Frank Becker