Männer brauchen Grenzen

Der für immer Zigaretten holen gehende Mann

von Tina Teubner

© Tina Teubner
Der für immer Zigaretten
holen gehende Mann
 
Keiner will alt werden. Warum eigentlich nicht? Was ist denn bitte die Alternative?
   Irgendwann werden die meisten von uns hoffentlich so alt geworden sein, daß die Hoffnung sich in Erinnerung verwandelt hat. Und dann haben wir doch die verdammte Pflicht, dafür zu sorgen, daß die schön ist. Daß wir, von Rillen durchfurcht, auf ein Leben zurückblicken, das sich wenigstens in seinen Grundzügen von dem einer Porreestange unterscheidet.
   Es wird Zeit, ein paar grundsätzliche Überlegungen über die Zeit anzustellen. Die meisten Menschen gehen von der Annahme aus, daß sich die Zeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammensetzt. Das stimmt so nicht. Zumindest nicht immer und nicht an allen Orten. Damals, vor dem Urknall (die Älteren werden sich erinnern), gab es beispielsweise noch überhaupt keine Zeit. Die Elementarteilchen kreisten gedankenlos umeinander, und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis eines von ihnen auf den Gedanken verfiel, daß dies eine ungeheure Zeitverschwendung sein könnte. Vor der Erfindung der Zeit steht also die der Zeitverschwendung.
   Dann trat der Neandertaler auf den Plan. Er hatte nichts zu verschwenden, erst recht keine Zeit. In ewiger Hektik jagte er dem Mammut hinterher und hatte keinen Gedanken für die Zukunft übrig. Dann, abends, beim Grillen des Mammuts auf dem Lagerfeuer, packte er die ewig gleichen Geschichten aus.    
Aus Langeweile. (Grillen Sie mal ein Mammut, dann wissen Sie, wovon ich rede.) Die Neandertalische Literatur, so reich sie in ihren Formen gewesen sein mag, läßt sich inhaltlich auf zwei Kernsätze zurückführen:
 
1. Die da oben machen sowieso, was sie wollen.
2. Früher war alles besser.
 
   Der Neandertaler war ein Meister im Verklären der Vergangenheit - kein Wunder, schließlich war der Neandertaler ein Mann. Aber dazu später mehr.
   Die alten Ägypter kannten überhaupt nur die Gegenwart. Die Tätigkeit der ägyptischen Geschichtsschreiber beschränkte sich darauf, den jeweils amtierenden Pharao dafür zu loben, daß sich unter seiner Regentschaft mal wieder nichts, aber auch gar nichts geändert habe. Zu anderen Zeiten und an anderen Orten war es wieder anders.
   Wir Deutschen arbeiten derzeit sehr erfolgreich an der Abschaffung der Gegenwart. Und zwar (klingt paradox, ist aber so) ausgerechnet durch ihre konsequente Schonung. Ich wage an dieser Stelle zu behaupten, daß es wenige Mentalitäten gibt, die ihre kostbare Zeit und ihre Lebensqualität derart konsequent verplätschern wie wir Deutschen. Ich muß sagen: Das hat regelrecht Grandezza. Wie rücksichtsvoll wir Deutschen mit der Gegenwart umgehen: Das verdient Respekt!
   Alle warten immer ganz höflich darauf, daß die Gegenwart gar nicht belastet wird. Alle Wünsche werden in die Zukunft projiziert. Die Zukunft wird es bringen: Sie wird die Wunden heilen, wird den richtigen Mann bringen. Sie bringt die Kinder und macht, daß sie durchschlafen. Sie bringt den ersehnten Job, die bessere Wohnung, die größere, die schönere, die abbezahltere: Alle warten darauf, daß die Zukunft leibhaftig zur Türe hereinspaziert kommt. Die kommt aber nicht. Die ist ja nicht doof. Und irgendwann kommt der Tag, an dem klar wird, daß das Leben nicht immer besser, sondern immer schlechter wird. Und schlagartig wird die Vergangenheit verklärt, die leider niemals stattgefunden hat.
   Wie in der schönen Fernsehsendung, die es in dieser Form leider nicht mehr gibt: „BITTE MELDE DICH“. Diese durch und durch poetische Vermißtensendung, wo meist ein sächsisch angehauchter Zurückgelassener in die Kamera wimmerte: „Hälmud bidde mälde disch. Mir ham doch ds Baradies uff Ärden gehobt. Der Abndbrodtisch is immo füa disch gedeckt, und isch moche och jeden Abnd die Läbbaworschbrodsubbe, die isch uffn Dod nisch ausstehn gon“ *  
   Und dann guckte der Moderator immer ganz betroffen und mitgenommen rum und forderte den Läbbaworschbrodsubbenmenschen auf, den Zuschauern noch einmal zu erzählen, was an jenem denkwürdigen Abend geschah, an dem der Vermißte für immer Zigaretten holen ging:
   „Denken Sie nach. Können Sie sich an irgendetwas erinnern? Ist etwas vorgefallen? “
   „Nein, es war nüschts.“
   „Bei Ihnen war nichts?“
   „Nein, nüschts.“
   „Wirklich nichts?“
   „Nüschts.“
   Kein Wunder. Wenn ich Helmut wäre, würde ich auch nicht unbedingt ins Nüschts zurückkehren.
   Hm.
 
WAS HAT DAS JETZT MIT DEM THEMA „MÄNNER BRAUCHEN GRENZEN“ ZU TUN?
 
   Alles. Es bleibt einfach die große Lebensaufgabe, das Unerträgliche nicht immer mitzumachen, sondern auch mal auf den Putz zu hauen und sich zu wehren - aber eben das Unvermeidliche ein bißchen tolerant liebzuhaben. Es ist ja auch schwer auszuhalten, daß das Jetzt unser Leben ist. Jetzt. Zur Sekunde. Sie haben mein vollstes Mitgefühl. Und ich baue auf das Ihre. Ich, die ich gerade am Schreibtisch sitze und vor Betroffenheit wegzuschwemmen drohe. Egal, Wo Sie sich gerade befinden: auf dem Klo, auf dem Sofa, im Bett, im Zug. Das Jetzt ist Ihr Leben! Erklären Sie es umgehend zu dem einzigen, das Sie gerade haben. Gehen Sie davon aus, daß sich zur Sekunde Vergangenheit und Zukunft in einem gigantomanischen Feuerwerk kreuzen. Bleiben Sie jetzt wach! Seien Sie zu Recht zuversichtlich. Nutzen Sie die frei gewordenen Energien dazu, die Erziehungsarbeit an Ihrem Mann zu vollenden.    
 
----------------------------------------
* Dt. etwa: „Helmut, bitte melde dich. Wir haben doch das Paradies auf Erden gehabt. Der Abendbrottisch ist immer für dich gedeckt, und ich mache auch jeden .Abend die Läbbaworschtbrodsubbe [nicht übersetzbar], die ich auf den Tod nicht ausstehen kann.“
 

© Tina Teubner

Weitere Informationen: www.lappan.de