Schreiben als Lebensrettung
Nicht das Erinnern, sondern das Vergessen sei der Bodensatz des Problems, wenn man über die Vergangenheit schreibe, hat Patrick Modiano kürzlich gemeint. „Aber ich habe doch nicht geträumt“. Mit diesem ersten Satz öffnet sich „Gräser der Nacht“, und der Icherzähler des Romans, hinter dem sich der Autor wie immer kaum verbirgt, fragt sich, ist das, an was er sich erinnert, wirklich so gewesen oder nur ein Gespinst. Auch in dem nun auf Deutsch erschienenem Roman Modianos geht es um eine Vergangenheit, deren Ereignisse in einen Nebel des Vergessens gehüllt sind. Doch er will ihnen unbedingt auf die Spur kommen. Aber wie? Es hilft dem Proust unserer Tage nur ein kleines schwarzes Notizbuch auf der Suche nach der verlorenen Zeit, nach einer Jugend, die „eine kurze aber verworrene Zeit meines Lebens war.“ Dieses Notizbuch wird zum untergründigen Protagonisten des Romans. Es enthält jedoch fast nur Termine, ist kein Tagebuch, so daß es nur eine magere Krücke ist, die dem Vergessen Einhalt gebieten kann.
Wir befinden uns in der Mitte des 1960er Jahre, als Modiano zwanzig Jahre zählte, und er wie ein ach so junger Hund durch Paris streunt. Sein Doppelgängerich des Romans trifft in Montparnasse auf eine Gruppe von zwielichtigen Gestalten, die sich in einem Hotel versammeln, in dem auch Dannie, eine nur wenig ältere junge Frau Unterschlupf gefunden hat. Auch sie scheint in dubiose Geschäfte verwickelt gewesen zu sein, doch ihre Existenz bleibt wie bei fast allen Figuren Modianos im Ungefähren. Der Erzähler wird eines Tages, nachdem seine zeitweilige Freundin schon wieder aus seinem Leben verschwunden ist, von der Polizei vorgeladen und ein Inspektor Langlois befragt ihn nach der Clique und nach Dannie. Fast fünfzig Jahre später, als das Leben dem Ende zugeht und er das Gefühl hat, sich selbst allmählich zu überleben, nimmt er den Faden wieder auf, der zurück zu ihr führen könnte. Und so erzählt Modiano in Rückblenden die Geschichte einer ersten Liebe, wie immer äußerst dezent. Dieselbe Dezenz, gepaart mit einer tiefen Schüchternheit, hat aber auch dazu geführt, daß er Dannie kaum Fragen gestellt hat zu ihrem Leben und dem Umgang mit der Clique. Fragen, die er sich damals nur selbst gestellt hat, sind die Fragen, die ihn heute wieder bedrängen. In was ist sie verwickelt gewesen? „Ich habe fast ein Leben gebraucht, um erneut am Ausgangspunkt zu sein.“ Doch ist nicht alles zu spät, fragt sich Modianos Alter Ego, denn die Zeugen der Zeit sind alle verschwunden. Aber Modiano wäre nicht Modiano, wenn er nicht dennoch versuchte, Spuren zu entdecken, und zwar schreibend: „Episoden eines geträumten, zeitlosen Lebens, die ich Seite um Seite dem trüben Alltagsleben entreiße, damit es ein bisschen Schatten und Licht bekommt.“
Dabei stellt sich ein Gefühl von gleichzeitiger„Anwesenheit und Abwesenheit“ ein. „Für mich hat es Gegenwart oder Vergangenheit nie gegeben. Alles verschmilzt.“ Man könnte dieses Schreiben Modianos, in dem sich in einem ja fast lebenslangem Traum Wirklichkeit, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit mischen, auch ein oniristisches Schreiben nennen, nein überhaupt nicht im Sinne der Surrealisten, die sich ja künstlich in eine Trance versetzt haben. Es birgt wie in allen Büchern Modianos ein traumartiges Lebensgefühl, das stets zwischen allen Zeiten changiert. Zum einem in der, in der er das Buch verfasst, dann in der seiner Jugend, zudem in der aller Etappen zwischen Damals und Heute, und schließlich gar in einer Zeit, die er gar nicht erlebt haben kann, wenn er etwa auf einer Pariser Straße einer Frau begegnet, in der er Jeanne Duval, die Geliebte Baudelaires, zu erkennen glaubt, der er folgt und so plötzlich ins 19. Jahrhundert abtaucht. Virtuos erzählt er auch diesen Roman in permanenten Zeitüberblendungen, so daß er den Leser bisweilen schwindlig spielt wie ein genialer Fußballspieler à la Ronaldo, der sich mit mehreren Übersteigern um die eigene Achse dreht und damit das Publikum verwirrend betört. Gerade dieses Spiel zwischen allen Zeiten macht das große Vergnügen an den Romanen des Nobelpreisträgers aus, dabei muß der Leser aber stets auf dem Quivive sein, um all die Zeitsprünge Modianos mitspringen zu können.
Ein überraschendes Apercu taucht plötzlich mitten im Roman auf und Modiano, der sich doch stets der Vergangenheit zuwendet, scheint in der Welt der I-Phones angekommen zu sein. Doch er ist nur ein flüchtiger Beobachter junger heutiger Menschen, die sich auf der Terrasse eines Cafés gegenseitig fotografieren. Die Beobachtung dient ihm auch nur dazu, sich wieder seiner eigenen Jugend zu vergegenwärtigen. Dieser Nobelpreisträger als Besitzer eines I-Phones, man kann es sich nicht vorstellen. Peu à peu kommt Modianos Erzähler seiner ersten Liebe auf die Spur, vor allem als er Jahre später Inspektor Langlois trifft. Zufall oder Koinzidenz? Eine Unwahrscheinlichkeit in Zeit und Raum, aber zwingend, derer sich Modiano stets als ein Meister der Koinzidenzen bedient. Seit Jahren hat der inzwischen pensionierte Langlois auf ihn gewartet, um ihm die Ermittlungsakte zu Dannie und zu ihrem einst jungen Liebhaber in die Hand zu drücken. Dannie scheint damals gar in einen Mord verwickelt gewesen zu sein im Umfeld der in Paris lebenden Marokkanern. Diese waren in diesen sechziger Jahren entweder Geheimagenten ihres Königreichs oder politisch oppositionelle Akteure im Exil oder beides gleichzeitig. „Überall lag Bedrohung in der Luft“ stellt rückblickend Modiano fest, als Paris in jenen Jahren Schauplatz nachkolonialistischer Auseinandersetzungen war. Und er erwähnt, wenn auch nur andeutungsweise die Entführung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barka mitten in St. Germain des Près vor der Brasserie Lipp und seine folgende Ermordung durch den marokkanischen Geheimdienst.
Auf seiner Reise durch die Zeiten führt Modiano den Leser wie in nahezu allen seinen Romanen durch das Paris von damals und heute, führt dabei auch die Verluste von Orten, Cafés, Hotels in den letzten fünfzig Jahren an. Orte, die auch meine Orte waren, als ich ab den Endsechziger Jahren in der Seinestadt gelebt und die Atmosphäre jener Jahre erlebt habe. Stimmungen und Geschehnisse tauchen in mir nun wieder auf, weil er sich und dadurch auch mich in seinem Roman in seiner so unvergleichlich bildhaften Sprache daran erinnert.
Modianos Obsession, in unendlich vielen Geschichten sich selbst auf die Spur zu kommen, und damit die Geschichte der eigenen Existenz bis in die letzten Winkel auszuleuchten, kann für den Leser vor allem seiner Generation, aber nicht nur der, ebenso zu einer Obsession werden, seine Roman lesen zu wollen, ja zu müssen.
Eben auch, um sich selbst dem Vergessen zu entreißen.
Oft bin ich den Tagen seitdem Modiano 2014 den Nobelpreis erhalten hat, gefragt worden, welchen seiner fast dreißig Romane man zuerst lesen solle. Eine schwierige Frage, da ich zwar alle gelesen habe und auch mehrfach, sie aber deshalb auch leicht verwechsle. Schließlich habe ich mich dazu durchgerungen, seinen Roman „Die Gasse der dunklen Läden“, mit dem er 1978 den Prix Goncourt erhalten hat, zu empfehlen. „Gräser der Nacht“ ist hingegen, der Titel lehnt sich an Verse von Ossip Mandelstam an, eher ein Buch für fortgeschrittene Modianoleser, für die Initiierten, und doch wird der wunderbar melancholische Schimmer eines Schriftstellerdichters, der auch in diesem vorletztem Roman durchscheint, ebenso neue Leser betören können. Ein weiterer Roman, der vor wenigen Wochen in Paris erschienen ist „Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier“ (Damit du dich nicht im Viertel verirrst) harrt noch der deutschen Übersetzung.
Als Modiano von der Zeitschrift „Les Inrockuptibles“ gefragt wurde, ob er schon wisse, was er in seiner Nobelpreisrede sagen werde, zögerte er fast furchtsam und meinte, er könne ja auch eine fiktive Geschichte vorlesen. Das paßt zu diesem Menschen, der nur in Erzählungen seiner selbst lebt. Doch schließlich hat er in Stockholm doch eine Rede gehalten, in der er vom erinnernden Schreiben als Lebensrettung gesprochen hat.
Patrick Modiano – „Gräser der Nacht“
Roman - aus dem Französischen von Elisabeth Edl
© 2014 Carl Hanser Verlag, 176 S., gebunden – ISBN 978-3-446-24721-5
18,90 €
Weitere Informationen: www.hanser-literaturverlage.de
Die Besprechung erschien zuerst in der Berliner Zeitung.
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