Mehr Liebe in der Schule

Ein Essay zum Schulbeginn

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker

Mehr Liebe in der Schule?
 
Als ich zu diesem Thema befragt wurde, dachte ich gleich – verstehe, es muß wieder ein Anlauf genommen werden, mehr geliebt werden. Und wer?
Natürlich die Lehrer! Sie brauchen mehr Liebe.
Oder doch die armen Kinder und Jugendlichen, die in die Schule gehen müssen? Sie sind ja herzig, diese Kleinen, vielleicht etwas mehr als die Jugendlichen, mit denen es ein Verwandter zu tun hatte, als in seinem Referendarjahr die Jungen einen nassen Schwamm auf seinem Sitz plazierten und an einer Schnur einen Rasierapparat über seinem Pult aufhängten, weil sie übrig gelassene Bartstoppeln an seinem Kinn oder sonstwo entdeckt hatten. Womit also fast klar bewiesen ist, daß es die  Jugendlichen nicht sein können, die mehr Liebe brauchen. Oder doch? Ich komme darauf zurück.
Der Verwandte, ein liebenswerter, wehrloser, wortkarger Mann, schied aus dem Schuldienst aus oder gab ihn auf. Aber wir wollen doch gütige Lehrer und Lehrerinnen, die den Jugendlichen Wärme und Festigkeit entgegenbringen - also gute Menschen. Wie kommt es übrigens, daß sich auf der Bühne und in der Prosa gute Menschen so schlecht darstellen lassen? Genau so wenig wie die wahre Liebe (Aida, Heloise, Julia, Romeo und andere sind ungeeignete Beispiele, sie sind Artefakten, stilisierte, bereinigte Ideale). Also, woran liegt es? Die Antwort ist, wie erwartet: Weil es sie nicht gibt, die guten Menschen. Zuerst war der Mensch da, dann die ethischen und moralischen Systeme, wie auch immer sie kanonisiert wurden. Es sei denn, wir dürften glauben, daß der Mensch, so wie er ist, schon liebenswert ist. Seltsamerweise spricht einiges dafür, wenngleich es unsere Möglichkeiten übersteigt, Hitler oder Stalin zu lieben. Da müssten andere Antworten her.
Meine Mutter ging 1902 in eine Klosterschule, wo angebliche Fehlleistungen dadurch bestraft wurden, daß man den Kindern mit dem Rohrstock Schläge auf die Handflächen versetzte. 1935 gab es in meiner Schule immer noch Schläge. Ich denke, oft geschah dies durch Lehrer, die sich hilflos fühlten. Alle aber waren selbst durch die Erziehung im Zeitgeist geprägt und waren geschlagen worden.
Mit solchen Betrachtungen kommen wir freilich immer noch nicht zu mehr Liebe in der Schule.
Ich muß an dieser Stelle erst  einmal meine Ausgangsposition verraten. Ich war in der Schule ziemlich brav, mochte einige Lehrer sehr, die mich auch, ärgerte mich, wenn Klassenkameraden es ihnen schwer machten, ließ meinen Ärger jedoch niemand merken.
Später hatte ich heimlich ein schlechtes Gewissen, weil ich so gar nicht aufmüpfig gewesen war, denn Letzteres wurde nach dem Kriege modern. Als Familienvater begegnete mir die moderne Aufmüpfigkeit bei den Elternabenden, wo junge, forsche Muttis ausführlich auf Beanstandenswertes hinwiesen und die Lehrer in die Defensive drängten. Da sah ich das Ganze auch mehr gesellschaftspolitisch. Ich hielt diese endlosen Diskussionen oft heimlich für demokratische Trockenübungen. Ich dachte an die vergangenen Jahre unter Hitler, wo es wirklichen Mut erfordert hatte, Widerstand zu leisten.
Ich muß zur Sache kommen. Daß man nur mit Liebe erziehen und belehren kann, hat fast jeder schon erfahren. Man kann es auch mit sicherem Erfolg ausprobieren. So oft ich daran denke, probiere ich es auch. Statt „Liebe“ (damit man nicht als Weichei denunziert wird) versuche ich es gerne mit der Definition „Wahrnehmung“. Damit meine ich Wahrnehmung in sehr weitem Sinne.  Wahrnehmung ohne Empathie ist wahrscheinlich nicht möglich. Sonst muß ich halt doch hinzufügen: mit liebender Wahrnehmung. Das also sollten die Schülerinnen und Schüler von den Lehrenden erwarten dürfen.
Dann kommt aber eine einzige Bedingung, die gestellt werden muss: Die Lehrerinnen und Lehrer müssen sich in einem Umfeld von Solidarität fühlen dürfen. Die muß von den Eltern kommen, und sie wird sich weitgehend auf die Jugendlichen und Kinder übertragen. Solidarität statt Unterwerfung, Herrschaft, Unterordnung, Spitzfindigkeit, Rechthaberei.
Und wenn es nun doch irgendwo einen einzigen mißratenen, rechthaberischen Lehrer geben sollte? Einen, der sich aus Karrieresucht durch Law and Order profilieren will? Einen, der unter dem Druck eines ehrgeizigen Schulleiters steht und überreagiert? Einen, der ausflippt, weil er sich hilflos und wehrlos fühlt?
Ich kenne keinen, nein, bestimmt, ich kenne wirklich keinen. Sollte es ihn dennoch geben, wird er sich nach dem Lesen dieses Beitrags bestimmt melden. Heute kann man ja alles therapieren.
Aber die Antwort auf unser Problem ist gefunden: Die Lehrer brauchen mehr Liebe. Und ich denke – wieder heimlich -, daß wir Leute sind, die mit ihrem Wassereimer einen Waldbrand einfach bekämpfen müssen, auch wenn überall immer wieder Brände aufflammen. Wir müssen einfach, und wahrscheinlich sollen wir auch.
 


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007