Lebenlernen

Helmut Spiegel – „Ich schäbiges Frikadellchen“

von Frank Becker

Lebenlernen
 
Manchmal, liebe Leser, geht einem bei der Lektüre eines Buches das Herz auf, selbst wenn es eine dunkle Zeit und manch Trauriges beschreibt. So ist es mir bei den als Roman verpackten Erinnerungen des Essener Journalisten und Schriftstellers Helmut Spiegel gegangen, die entscheidende Lebensabschnitte (s)einer Kindheit im Dritten Reich, vom Ausbruch des 2. Weltkriegs, von den Essener Bombennächten, der Flucht aufs Land, nach dem Zusammenbruch Deutschlands der Rückkehr in die zerstörte Stadt und von der frühen Nachkriegszeit bis zur Währungsreform 1948 erzählen.
Das war – jeder weiß es – ein Abschnitt der deutschen Geschichte, den mitzuerleben niemand aus der nachfolgenden Generation ihm neidet. Es gab die Gängelung des Systems der nationalsozialistischen Gleichschaltung, das Einrücken der Väter in den als nötig angesehenen, oft sogar begrüßten Krieg, den Tod vieler, die „im Feld blieben“ und die immer größer werdende Knappheit und Not in den unter Bombenhagel liegenden Industrie-Städten des Ruhrgebiets. Doch weil Kinder auf vieles natürlich eine ganz andere Sicht haben können, manches als Abenteuer empfinden, was den Erwachsenen schreckliche Sorgen bereitet und weil Kinder sogar spielen können, ja müssen, wenn die Welt aus den Angeln gehoben wird, sieht diese Welt in ihren Augen oft ganz anders aus.
 
Helmut Spiegel ist mit seinem Roman „Ich schäbiges Frikadellchen“ über jene prägenden, schlimmen acht Jahre aus dem Blickwinkel des Jungen ein leises aber intensives Meisterstück gelungen. Die atmosphärische Dichte der Beschreibung der kleinbürgerlichen, durchaus systemangepaßten Gesellschaft, in der Helmut Spiegel aufwächst, die alltäglichen Abläufe, der familiäre Zusammenhalt, der auch die Flucht vor dem Krieg in ein münsterländisches Dorf ermöglicht, das Zusammenrücken der Ausgebombten und das Improvisieren in allen Lebensbereichen wird von ihm so leicht und eindrücklich vermittelt, daß man es mitempfindet, miterleidet, ja beinahe riechen und schmecken kann. Die Angst in den Luftschutzkellern kriecht dem Leser unter die Haut, das Wachsen der Frauen an ihren Aufgaben und ihre lebensbejahende Haltung, die allein das Überleben sichert, läßt den ohnehin schon großen Respekt vor dieser Generation der Mütter noch einmal wachsen. Die Charaktere seiner Umgebung – Familie, Lehrer, Nachbarn, Bauern, Soldaten, Bonzen, Zwangsarbeiter, Schulkameraden - zeichnet Helmut Spiegel mit einer Präzision, als male er ihre Porträts. Auch hier sieht und hört man förmlich, von wem die Rede ist, kann Sympathien und Abneigungen entwickeln.
 
Daß er die trotz der Bedrängnisse des Krieges stattfindenden kleinen alltäglichen Freuden der Kinder, ihr Spiel, das auch den Krieg und die Trümmerlandschaft danach zum Abenteuer macht, ihre verständliche Hingezogenheit zur HJ-Uniform, den Schulunterricht, Freundschaften, das Lebenlernen und das erste Herzklopfen bei der Begegnung mit einem Mädchen sowie die enttäuschte erste Liebe völlig unverkrampft und liebenswert beschreibt, macht sein Buch umso sympathischer. Das Akkordeon und die Klampfe als Lebenshilfe, der selbstangebaute Tabak und der selbstgebrannte Schnaps, das Gemüsebeet auf dem Bombenhügel, Familienausflüge, Radtouren und Badetage an der Ruhr, an der Emscher oder den Rhein-Herne-Kanal stehen neben dem Wiederaufbau der zerstörten Stadt, der Neustrukturierung der sozialen Gemeinschaft.  
 
Da spürt man ganz deutlich und weiß, daß nichts beschönigt oder glattgebügelt wird. Helmut Spiegel erzählt von Menschen, die wie überall im Land ihr Leben bewältigen mußten, die nach Zerstörung, Tod und Not auch das Feiern wieder lernten, weil es überlebensnotwendig war. Aber er erzählt auch von den Unbelehrbaren, von SS-Schergen, die bis zum letzten Moment ihre Verbrechen begingen und davon, wie schrecklich für viele, vor allem die Heranwachsenden die von den Befreiermächten vermittelte späte Erkenntnis der Verbrechen des Nationalsozialismus am jüdischen Bevölkerungsteil war. Auch das ist ein Verdienst dieses hervorragenden Buches, das - wie schon andere Bücher aus dem Verlag Henselowsky Boschmann zuvor - unsere Auszeichnung verdient: den Musenkuß.
„Und der Titel?“, werden Sie fragen. Den hat Helmut Spiegel aus dem Leben, von Studienrat Bisinger nämlich, der damit seinem Unmut Ausdruck verlieh: Silberner Drehbleistift heraus, und immer gegen die Stirn: 'Du Roß, du schä-bi-ges Fri-ka-dell-chen!'.
 
Helmut Spiegel – „Ich schäbiges Frikadellchen“
Roman über die Kriegs- und Nachkriegszeit im Ruhrgebiet
© 2011 (7. Auflage) Verlag Henselowsky Boschmann, 264 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Lesebändchen  -  ISBN 978-3-922750-20-8
14,90 €
 
Weitere Informationen: www.ruhrig.de