Der Alkohol, die Dichter & die Literatur

Eine Dokumentation in fünf Teilen - 1. Teil

von Niels Höpfner

Illustration © Eugen Egner

 Der Alkohol, die Dichter
& die Literatur

Eine Dokumentation von Niels Höpfner in fünf Teilen

 1. Teil


Durst
Ich vertrockne
...
Die Sonnenfinsternis

Nicht zu vergessen

Rainald Goetz, "Kolik"


Gin und Orangensaft sind die besten Arzneien gegen

Alkoholismus, dessen wahrer Grund die Häßlichkeit ist

und die vollkommen verwirrende Sterilität des Lebens,

wie es einem verkauft wird.

Malcolm Lowry, "Durch den Panamakanal"

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"Den nächsten Planeten bewohnte ein Säufer. Dieser Besuch war sehr kurz, aber er tauchte den kleinen Prinzen in tiefe Schwermut. – 'Was machst du da?' fragte er den Säufer, den er stumm vor einer Reihe voller Flaschen sitzen sah. – 'Ich trinke', antwortete er mit düsterer Miene. – 'Warum trinkst du?' fragte ihn der kleine Prinz. – 'Um zu vergessen', antwortete der Säufer. 'Um was zu vergessen?' erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte. – 'Um zu vergessen, daß ich mich schäme', gestand der Säufer und senkte den Kopf. – 'Weshalb schämst du dich?' fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen. – 'Weil ich saufe', endete der Säufer und verschloß sich endgültig in sein Schweigen."

Wie sehr auch Antoine de Saint-Exupérys Märchen-Prinzen der planetarische Zwischenstop vor seiner Erdenlandung befremdete, so dürfte es nur den der bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung Hörigen irritieren, wenn offenbare Lebens- oder Todeselexiere des einen oder anderen Schriftstellers hier entkorkt werden. Nur ein auratisches Mißverständnis stünde dem entgegen. Und wie eine Literatur, die sich der Wahrheit verpflichtet weiß, kein Tabuthema kennt¹, so stehen auch nicht ihre Schöpfer unter Artenschutz.

Seit den Anfängen der Literatur ist auch Alkohol eine ihrer thematischen Facetten, da er von altersher zum menschlichen Leben gehört. In der Bibel liest man (Psalm 104, Vers 15) kurz und bündig: "Der Wein erfreue des Menschen Herz." Und selbstverständlich flossen schon in der Antike vinum und oinos : "Nunc est bibendum", prostet Horaz in einer Ode dem Leser zu, und bei Homer kann Odysseus den garstigen Zyklopen erst blenden, nachdem er ihn betrunken gemacht hat. Die Entstehung der Tragödie geht auf den Bacchuskult zurück. Und allein das Wort Symposion bedeutet ursprünglich ja nichts anderes als Trinkgelage.

Diese Tradition setzt sich in Deutschland fort in mittelalterlichen Trinkliedern, in Zechgesängen der Vaganten, überliefert in der Sammlung des Archipoeta (12. Jahrhundert) und in den "Carmina Burana"; vom 16. Jahrhundert an lösen deutschsprachige Trinklieder die lateinischen ab. In Frankreich feiert Rabelais wüst den Alkohol in seinem Roman "Gargantua und Pantagruel"; ein maßloser Zecher ist Shakespeares Falstaff. Zierlicher geht's dann wieder zu bei den deutschen Anakreontikern im 18. Jahrhundert, die – wie ihr antikes Vorbild Anakreon- den Wein und die Liebe besingen. Lessing, Goethe, Voss, Claudius, Simrock, Viktor von Scheffel schrieben ebenfalls Trinklieder, die große Verbreitung durch die studentischen Kommersbücher fanden.

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Ungefähr bis Anfang des 19. Jahrhunderts erscheint Alkohol in der Literatur als Lustdroge und Freudenspender. Dann beginnt das Drama, wahrscheinlich, weil mit Beginn der Industriellen Revolution die Zeiten härter werden. Der erste Protagonist soll hier auf der vorläufigen Hinterbühne Amerika auftreten: Es ist der Dichter Edgar Allan Poe (1809-1849). Schon als 17jähriger Student begann er zu trinken, obwohl er sich, nach dem Zeugnis eines Kommilitonen, vor dem Alkohol ekelte und ihn bereits geringe Mengen in einen Rausch versetzten. Poes Kindheit war sehr unglücklich verlaufen: der Vater verließ die Familie, und nach dem frühen Tod der Mutter, einer Schauspielerin, wuchs der kleine Edgar bei Pflegeeltern auf.

Das Verhältnis zum wohlhabenden Pflegevater, der Poe anfänglich auch finanziell unterstützte, verschlechtert sich so sehr, daß Geldspritzen ausbleiben und Poe auch beim frühen Tod des Pflegevaters keinen einzigen Cent erbt. Autorenhonorare waren höchst miserabel in jener Zeit (heute sind sie nur miserabel, meistens), und so wird das Leben des Dichters zu einer einzigen grauenvollen Jagd nach dem Dollar- fürs Überleben bis zum nächsten Tag.

Seine Heirat 1836 scheint Poe psychisch stabilisiert zu haben, ein befreundeter Buchhändler jedenfalls notiert im folgenden Jahr: "Niemals habe ich bei ihm auch nur den geringsten Alkoholeinfluß bemerkt, oder daß er sich einem anderen Laster hingegeben hätte. Er war vielmehr einer der höflichsten, wohlerzogensten und intelligentesten Menschen, die ich bei meinen Reisen und Aufenthalten in verschiedenen Teilen der Welt kennengelernt habe."

Ein paar Jahre später (1843) klang es bei einem zweiten Zeitzeugen bereits anders: "Schon bei einem einzigen Glas von leichtem Wein, Bier oder Cider hatte er den Rubikon überschritten- es endete fast immer in Exzeß und Krankheit. Aber wie Coleridge kämpfte er sehr gegen diese Neigung, und ich möchte meinen, hätte er nach allen traurigen Erfahrungen und Entbehrungen ein Amt mit festem Gehalt bekommen, wäre er der literarischen Zwangsarbeit enthoben worden, dann hätte er sich davon befreien können, jedenfalls zu dieser Zeit noch."

Poe selbst beschönigte wohl seine Situation, als er 1848 schrieb, ein Jahr nach dem Tod seiner von ihm sehr geliebten Frau, durch den er einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten hatte: "Nach Gesellschaft verlangt mich nur, wenn ich vom Trinken angeregt bin. Nur dann gehe – vielmehr ging ich in den Kreis meiner Freunde. Da diese mich selten, genaugenommen niemals anders als angeregt gesehen haben, meinen sie, ich sei immer so. Wer mich aber wirklich kennt, weiß es besser."

Während einer Vortragsreise erleidet Poe 1849 in Philadelphia einen Anfall von Verfolgungswahn und verbringt wegen Trunkenheit eine Nacht auf einer Polizeiwache. Ein paar Monate später, auf der Rückreise wiederum von einem Vortrag, findet man ihn in Baltimore als hilflose Person auf der Straße. Im Krankenhaus versinkt er in ein Delirium, in dem er sich nach Beschreibung des behandelnden Arztes "an phantastische und eingebildete Wesen wandte, die er an den Wänden sah, das Gesicht bleich, der ganze Körper mit Schweiß bedeckt". Einige Tage darauf stirbt Poe.

Zu seinem Nachlaßverwalter hatte Poe einen ehemaligen baptistischen Geistlichen bestimmt. Dieser sah in Poes Alkoholismus keine Krankheit, sondern nur Laster und Ausschweifung, und entstellte Poes Bild in der Literaturgeschichte nach Kräften, so daß Charles Baudelaire später erzürnt schrieb: "Gibt es in Amerika keine Polizeivorschrift, die Hunden das Betreten des Friedhofs verbietet?"

Wenn man heute in den Werken Edgar Allan Poes liest, für die das Unheimliche und Gespenstische charakteristisch sind, die eine surreale Wirklichkeitswelt antizipieren, dann ist kaum vorstellbar, daß ein nüchterner Kopf sie geschrieben haben könnte, vielmehr erscheint der Alkohol als ein unabdingbares kreatives Stimulans.

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Eine ähnliche Katalysatorfunktion hatte er fast zur gleichen Zeit in der Alten Welt für den Komponisten und romantischen Dichter E.T.A. Hoffmann (1776-1822). Auch Hoffmann entstammte einer unglücklichen, sehr früh in die Brüche gegangenen Ehe: der Vater, ein angesehener Königsberger Jurist, war Trinker, die Mutter, bei der das Kind aufwuchs, neigte zu psychopathischen Verhaltensweisen. Außerdem hatte es die Natur mit dem späteren Künstler nicht gutgemeint: zeitlebens blieb er gnomenhaft kleinwüchsig, dazu ein überproportional großer Kopf.

Häufig notiert Hoffmann in seinem Tagebuch Trinkgelage- oder er zeichnet einfach einen Pokal, wobei ein Glas mit Flügeln wohl auf Champagner hindeutet. Ein Engagement als Kapellmeister verschlug Hoffmann nach Bamberg, wo er im Wirtshaus "Zur Rose" rasch ein Stammgast wird. Dazu die Biographin Gabrielle Wittkop-Ménardeau: "Hoffmann verbringt täglich mehrere Stunden in der 'Rose', einem vortrefflichen Gasthaus in Alt-Bamberg... Der Wirt ist mit der Kundschaft dieses Gastes sehr zufrieden, der so lange trinkt, bis er, den Kopf auf dem Tisch, einschlummert, und er gewährt ihm gern, tief in der Kreide zu stehen. Hier trifft der Dichter seine Freunde und lädt sie ein, doch meistens setzt er sich ganz allein in seinen Winkel, steckt sich seine lange Pfeife an und betrinkt sich stumm, Beute seiner Gespenster und Visionen. ...Hoffmann trinkt alles, was ihm vorkommt, außer Bier, das er als geist- und sellenloses Getränk verachtet, weil es beruhigt, beschwert und einschläfert. Die Wahrheit, die übrigens auch aus dem intimen Tagebuch hervorgeht, zwingt zu der Feststellung, daß er das war, was man unumwunden einen Säufer nennt.

Es wäre ein törichter Irrtum, wollte man auch nur einen Augenblick annehmen, er sei durch den Trunk zum Dichter geworden. Der Alkohol schreibt nicht für ihn, sondern schreibt in ihm und spielt gewissermaßen die Rolle des Mikroskops, das vorhandene, bisher nur nicht sichtbare Dinge erkennen läßt. ...Sieht man die Dinge unter diesem Gesichtspunkt, muß man zugeben, daß sein Genie viel dem Alkohol verdankt."

Hoffmann trinkt nicht nur aus Genuß, sondern vorrangig, um seine Phantasie anzuheizen, wie auch aus etlichen Bemerkungen in seinem Tagebuch hervorgeht, wenn er etwa im April 1812 notiert: "Abends mich mit Mühe heraufgeschraubt- durch Wein und Punsch."

1814 übersiedelt E.T.A. Hoffmann nach Berlin, wo die Weinstube "Lutter und Wegner" im Gendarmenmarktviertel durch ihn und seinen Zechgenossen Ludwig Devrient, den großen Schauspieler, legendär wird. Julius Eduard Hitzig, Freund und Biograph Hoffmanns, schreibt über ihn: "...so ging er, es mochte so spät sein, als es wollte, wenn alle anderen sich nach Hause begeben, noch in das Weinhaus, um dort den Morgen zu erwarten; früher in seine Wohnung zurückzukehren, war ihm nicht gut möglich.

Man denke hiebei aber nicht an einen gemeinen Trinker, der trinkt und trinkt aus Wohlgeschmack, bis er lallt und schläft; gerade das Umgekehrte war Hoffmanns Fall. Er trank, um sich zu montieren; dazu gehörte anfangs, wie er noch kräftig war, weniger; später natürlich mehr; -aber war er einmal montiert, wie er es nannte, in exotischer Stimmung, die, oft bei einer halben Flasche Wein, auch nur  e i n  gemütlicher Zuhörer hervorrufen konnte, so gab es nichts Interessanteres als das Feuerwerk von Witz und Geist und Glut der Fantasie, das er dann unaufhaltsam, oft fünf, sechs Stunden hintereinander vor der entzückten Umgebung aufsteigen ließ. ...Fremde, die nach Berlin kamen und ihn gern sehen wollten, suchten ihn, da seine Lebensweise bekannt war, immer in seinem Weinhause auf..."

Wie viele andere rümpfte auch Eichendorff in seiner Literaturgeschichte die Nase über Hoffmanns "Weinhausleben", während dieser darin wohl auch einen alternativen Protest sah, denn er ging, wie Hitzig bemerkt, "aus den Teesalons in das Weinhaus..., sich den Grundsatz aufstellend, daß, wenn man Kunstgenüsse haben wolle, man sie an öffentlichen Orten für sein Geld besser finde als in Privatzirkeln für beschwerliche Kratzfüße, und daß die Gesellschaft in der Weinstube vor allen übrigen den Vorzug habe, daß, wenn sie einem nicht gefiele, man weggehen könne, wenn man wolle, ohne daß es der Wirt übelnehme".

Als E.T.A. Hoffmann starb, hinterließ er bei "Lutter und Wegner" Zechschulden in der damals horrenden Höhe von 1116 Reichstalern. Der Wirt verzichtete darauf, sie einzutreiben, denn der Verdienst an seinem Stammgast, der zudem Neugierige scharenweise in das Lokal gelockt hatte, war üppig genug.

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Nicht nur in Berlin gab es einen großen zechenden Dichter, sondern auch in Weimar: Goethe. Ein Genußtrinker. Sein Biograph Richard Friedenthal: "Er trinkt wie stets täglich seinen guten Rotwein in großen Flaschen, Champagner, den schweren Würzburger Steinwein. ...Goethe trinkt auch als hoher Greis reichlich, schenkt ein aus großen, bauchigen Flaschen."

Zum Abendessen gehören gewöhnlich drei Sorten Wein: Goethe- ein Mann von Lebensart. Sohn August bleibt als Trinker früh auf der Strecke, die Lebensgefährtin & späte Ehefrau Christiane geht figürlich auf wie ein Hefekuchenteig und wird zum Gespött der Weimarer Gesellschaft, der Alte bleibt munter bis ins hohe Greisenalter- trotz (oder gerade wegen) einiger Bouteillen täglich: überlieferte Hauswirtschaftsbücher dokumentieren einen immensen Weinkonsum im Hause Goethe, der schon in jüngeren Jahren dichtete: "Frisch, der Wein soll reichlich fließen/ Nichts Verdrießlichs weh uns an..."

Goethe weiß, wovon er spricht, wenn er im "Faust", in "Auerbachs Keller", Mephisto geistige Getränke ad libitum herbeizaubern und alle gröhlend singen läßt: "Uns ist ganz kannibalisch wohl,/ als wie fünfhundert Säuen!"

Fortsetzung folgt!

© Niels Höpfner - Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung des Autors
© Illustration: Eugen Egner - Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung des Bild-Autors