Der Alkohol, die Dichter & die Literatur

Eine Dokumentation in fünf Teilen - 2. Teil

von Niels Höpfner

Karl Stauffer: Gottfried Keller

Der Alkohol, die Dichter
& die Literatur

Eine Dokumentation von Niels Höpfner
in fünf Teilen

2. Teil


"Tränen: in Gottfried Kellers Leben sind sie nur ausnahmsweise... überliefert. An ihrer Stelle floß, wenn man der Legende glauben darf, der Wein." Dies schrieb der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg über seinen berühmteren Landsmann & Kollegen. Aber warum die vornehme Zurückhaltung? Die "Legende" hat durchaus Hand & Fuß, und für Kellers Alkoholismus gibt es genügend plausible Gründe, nicht bloß die üblichen Produktionszwänge und –hemmnisse beim kreativen Prozeß, nicht bloß eine ungeliebte Brotarbeit in späteren Jahren:

Gottfried Keller (1819-1890), ein manisch-depressiver Charakter, war ein Muttersohn, und die Mutter, von der er nicht nur psychisch, sondern bis zum 42. Lebensjahr auch ökonomisch abhängig war, muß eine sehr dominante, wenn nicht gar tyrannische Frau gewesen sein.  Und auch auf Grund seiner Physis, die stark der E.T.A. Hoffmanns ähnelte, blieb Keller lebenslang wider Willen Junggeselle. Des öfteren verliebte er sich unglücklich in große dralle Frauen; eine endlich, nach dem Tod der Mutter, gefundene Braut beging Selbstmord.

Aus Verdruß über mißlungenes Liebeswerben treibt sich Keller 1846 in Gasthäusern herum, und beim Winterthurer Freischießen verprügelt er den Juristen und Publizisten Amman, was ihn noch lange in der Erinnerung freut: "Ich hatte doch einen guten Instinkt damals, und ich segne den Wein, der mich veranlaßte, dem widerlichen Ohrfeigengesicht sein Recht angedeihen zu lassen. Feig war er auch, denn er ist stärker als ich und ließ sich doch prügeln."

Kränkende Zurückweisungen kompensiert Keller mit übermäßigem Alkoholkonsum, woraus – wie bei seinem "Grünen Heinrich"- Raufereien resultieren. Dieses Verhaltensmuster wiederholt er immer wieder: "Bei dieser Gelegenheit muß ich Ihnen noch nachträglich gestehen, daß jenes blaue Auge, mit welchem ich einst bei Ihnen erschien, obgleich ich es abgeleugnet, dennoch von Prügeln herrührte. Ich hatte nämlich nicht nur den Schlivian geprügelt, sondern in der folgenden Nacht wieder einen, wegen dessen ich verklagt und von der Polizei um fünf Taler gebüßt wurde. In der dritten Nacht zog ich wieder aus, fand aber endlich meinen Meister in einem Hausknecht, der mich mit dem Hausschlüssel bediente, worauf ich endlich in mich ging. Es war eine Donnerstags-, Freitags- und Sonnabendsnacht, wo ich so mit gebrochenem Herzen mich umtrieb und anderen Leuten mir zur Erleichterung an den Köpfen kratzte."

Natürlich stellte Keller in reifen Jahren die Raufereien ein, aber er blieb ein Kneipengänger. Er sei, schrieb er einem Freund, "ein kleiner dicker Kerl, der abends 9 Uhr ins Wirtshaus und um Mitternacht zu Bett geht als alter Junggeselle".

Keller verelendet nicht durch den Alkohol, sondern bewältigt sein Problem, indem er, wie in kleinbürgerlich-bürgerlichen Kreisen nicht unüblich, zum Liebhaber eines guten Tropfens wird. Ja, er genießt sogar sein unfreiwilliges Junggesellentum: "Hier in Zürich ist jetzt ein hübsches Café auf der 'Meise'... Da sitzen wir in den schönen Sälen und trinken zum Andenken eine gute Flasche Gumpoldskirchner für 3 Franken 50 Rappen! Öfter als nötig ist! Das heißt, ich bin jetzt doch abends meistens zu Hause auf meinem Bürglibühel. Aber am Samstag abends und sonntags da bleib' ich in der Stadt, und dann sauf' ich für sieben Mann! Ich sag Ihnen! Und provoziere die besten Weine, daß die anderen Viecher, die Weib und Kinder haben, mit sauersüßen Mienen in die Tasche greifen, wenn sie mir, wie projektiert, die Schmiere nicht haben anwürfeln können."

Gottfried Keller sah seine Neigung zum Alkohol schließlich heiter-gelassen. Selbstironisch befand er über Fotografien von sich, daß sie "eher das Bild eines alten Vorsingers und Schnapsbruders vorstellen, als dasjenige des ersten Schöngeistes und arbitri elegantiarum des Jahrhunderts".

*

Mit Christian Dietrich Grabbe (1801-1836) kommt der Elendsalkoholismus in die deutsche Literaturgeschichte. Zeitgenossen schildern den Dichter als einen abstoßend häßlichen Menschen. Ein verunglücktes Leben. Geboren in der tiefsten Provinz, im westfälischen Detmold, als Sohn des hiesigen Zuchthausleiters; juristische Studien in Leipzig und Berlin, wo er seinen Monatswechsel für Spirituosen und Theaterkarten ausgibt; in Berlin gehört er auch zu E.T.A. Hoffmanns Zechkumpanen. Grabbe beschließt, Schauspieler zu werden und erhofft sich Protektion von Ludwig Tieck in Dresden. Als er dort ankommt, ist Tieck entsetzt über seine Talentlosigkeit und sein ungehobeltes Benehmen. Grabbe blitzt bei Tieck ab. Heimkehr nach Detmold, wo er den Winter 1823/24 mit alkoholischen Exzessen verbringt. Nach einem juristischen Examen bewirbt Grabbe sich vergeblich um die Stelle eines Amtsschreibers und um den Posten eines Archivrats, schließlich kommt er bei der Militärgerichtsbarkeit unter- die Rumflasche immer in Griffnähe. Neben seiner Brotarbeit schreibt er Theaterstücke, die in zwei Bänden erscheinen. Ein Exemplar geht an Goethe - der hat nie geantwortet.

Überhastet stürzt Grabbe sich in eine Ehe, die zur Strindberg-Hölle wird. Er gibt seinen subalternen Regierungsposten auf und flieht nach Frankfurt, wo er sich mit seinem Verleger Kettembeil überwirft, was im Alkohol ertränkt wird: "Wenn er sich erheben kann, so sitzt er schon am Morgen im Schwanen oder abends 'verwitterungsselig' unter zweifelhaften Kneipgenossen, die halb mit Mitleid, halb mit Grauen, halb belustigt die Explorationen dieses aus Trottelhaftigkeit und Geist gewürfelten Unikums... dieses verwüsteten verkommenen Genies an der Quelle erleben wollen."

Zerwürfnis auch mit dem Düsseldorfer Theaterdirektor Karl Immermann, dem Grabbes Rezensionen zu harsch sind. Rückkehr nach Detmold zum Sterben. Es ist der Lebenslauf einer manisch-depressiven Persönlichkeit, die ständig schwankt zwischen anarchischem Ausbruch und kleinbürgerlicher Anpassung.

Eduard Duller, der erste Biograph Grabbes, hat 1838 als Witwentröster vorsätzliche Unwahrheiten über den Alkoholismus des Dichters verbreitet: "Denkt euch eine Mutter, die ihrem Kinde von dessen viertem Lebensjahr an täglich betäubende geistige Getränke darbietet, und ihm des Nachts bei dem Schlafengehen solche vor das Bette setzt... Mag es grausam scheinen, daß ich diesen Schleier lüfte, die Grausamkeit dieses ersten Schicksals, welches Grabbe traf, ist größer, sie darf nicht verhüllt bleiben, wenn ich meine Pflicht gegen den Toten und die Zeitgenossen erfüllen soll." Grabbes Mutter bestritt diese Vorwürfe empört und glaubwürdig.

Aber unbestritten bleibt, daß Grabbe schon während seiner Gymnasialzeit erhebliche Mengen Alkohol trank. Otto Nieten, ein Biograph um 1900, über den jugendlichen Trinker: "Gewiß ist aber, daß ihm das eigene Wesen Pein schuf. Eine Lösung von diesem Druck... schenkte ihm eine schlimme Gabe aus Pandoras Büchse, schenkte ihm Dämon Alkohol. In den im Waldesschatten malerisch gelegenen Krügen lernte der junge Grabbe diesen seinen Todfeind kennen, und der sonst mißachtete Zuchtmeistersohn imponierte, wenn nun in kecken Improvisationen das verborgene Innenleben zutage trat, und er fühlte sich beglückt, wenn seine Eindrucksfähigkeit stärker und leichter ward. Die eingeborene Wildheit kam hinzu, um es in Trinkgelagen und mit allen anderen aufzunehmen und in der wüsten Seligkeit des Rausches ein mehr als tierisches Behagen zu finden. In dem doppelten physischen und seelischen Rausch fühlte der Dichter sich zugleich freier, größer und glücklicher. ...In dieser Trunkenheit und Berauschung erreicht der Phantast ein Entladungsgefühl, das ihm der einzig erträgliche Lebenszustand wird. ...Dabei wurde er wie zwischen Scylla und Charybdis hin- und hergeschleudert; der Alkohol mußte zur Arbeit animieren und wieder trübe Stimmungen vertreiben. Nie ließ ihn dieser Dämon los, und zu dem Druck des Schicksals gesellt sich Anteil und Schuld seiner schimpflichen Charakterschwäche."

Letzteres ist eine zeitbedingte Beurteilung, die ein Krankheitsbild nicht erfaßt. Kurz vor seinem Ende befindet sich Grabbe in einem erbärmlichen Zustand. Derselbe Biograph über die Düsseldorfer Zeit des Dichters: "Immermann gewöhnte ihm zwar wenigstens zeitweise den Morgenrum ab, aber in die Spelunke konnte er ihm nicht folgen. ...Der Schauspieler Karl Ellmenreich erzählt: 'Da saß Grabbe gespenstisch, hohl und ausgemergelt, in altmodischem, braunem Frack mit schwarzer Roßhaarkrawatte ohne Wäsche. Vor ihm stand ein Glas Wein oder ein Glas Grog. Seine Unterhaltung war voll von rohen Scherzen und Zoten, zynisch, trocken, exzentrisch.' – Es wirkt wie ein Satirdrama auf die Orgien, die... Hoffmann in tollem Überschwang mit Devrient gefeiert. Eine verzerrende Karikatur neben einem Gemälde von berauschender Farbenglut. Auf der Lebenshöhe stehende Menschen in dionysischem Rausch, zu intensivstem künstlerischen Genießen beschwingt- und in einer dunklen Winkelkneipe produziert sich Grabbe einer unedlen Neugier, tötet sich ab und vergiftet sich geflissentlich, um aus dumpfer Betäubung nicht zu erwachen. 'Aus dem Zauberquell des Weines sprudelt Schönes und Gemeines.'"

Eine "Natur in Trümmern" hat Immermann Grabbe genannt, und Heine nannte ihn – nicht ohne Bewunderung - "einen betrunkenen Shakespeare".

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Ein Blick über die Grenzen, nach Frankreich. Einer der Dichter, die hier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die moderne Lyrik prägen, ist Paul Verlaine (1844-1896). Und auch er ein ebenso unglücklicher Trinker wie Grabbe. Als "Alkoholiker mit lyrischem Katzenjammer" bezeichnet ihn der Schriftsteller Stefan Zweig, deutscher Herausgeber der Gesammelten Werke Verlaines (1922), in einer merkwürdig borniert moralisierenden Einleitung zum zweiten Band.

Und weiter Stefan Zweig: "Ein Einziges... ist Gefahr: die frühe Gewöhnung an den Alkohol in allen Formen. Verlaine, der Schwache, sich selbst immer Nachgebende, kann bei keinem Kaffeehaus, keinem Schank vorbei, ohne nicht rasch einen Absinth, einen Branntwein, einen Curaçao zur Anfeuerung zu nehmen, und die Trunkenheit treibt dann aus dem zarten Menschen eine sprunghaft böse Realität heraus. Er wird dann plötzlich zänkisch, wie Gottfried Keller..., und allmählich schwemmt der Absinth in stiller beharrlicher Arbeit alles Sanfte, Zarte aus dem schwachen Menschen heraus und entfremdet sich ihm selbst. ...'Le seul vice impardonnable', das einzige unverzeihliche Laster seines Lebens hat er selbst seine Trunkenheit und seine Trunkwut genannt. Und sie allein hat ihm den Boden unter den Füßen langsam weggeschwemmt."

Verschiedene Versuche, in bürgerlichen Berufen Fuß zu fassen, mißlingen, und auch eine hastig geschlossene Ehe scheitert gründlich. Verlaine lebt seine bislang latente Homosexualität aus mit Arthur Rimbaud, dem ungestümen Wunderkind. Beide kletten magnetisch aneinander in einer sadomasochistischen Beziehung. Stefan Zweig: "Zunächst treiben sie sich noch gemeinsam in Paris herum und trinken und reden, reden und trinken, nur daß Rimbaud, das Genie, der urkräftige und überkräftige dämonische Mensch, trinkt, um sich freier zu fühlen, um seinem Übermaß im Rausche gemäßer zu sein, indes Verlaine trinkt aus Angst, aus Reue, aus Melancholie, aus Schwäche. ...Rimbaud... wird der 'infernal époux', der teuflische Gatte, der Verlaine unterjocht wie eine Frau..."

Nach gemeinsamen Jahren in Londoner Kneipen dann in Brüssel die beiden Schüsse des angetrunkenen Verlaine auf Rimbaud, der mit einer Schramme davonkommt, aber Verlaine erhält eine zweijährige Gefängnisstrafe und wird für kurze Zeit fromm. Nach seiner Entlassung trifft er seinen geliebten Peiniger in Stuttgart wieder, wo Rimbaud als Sprachlehrer arbeitet. Das Melodram, das sich nun ereignet, schildert Stefan Zweig à la Stefan Zweig: "Neophyt der eine, Atheist der andere, haben sie das eine noch gemein - die Leidenschaft für den Trunk, und so sprechen und trinken sie zusammen bis in die tiefe Nacht. Zeuge des Bekehrungsversuches ist niemand gewesen: man kennt nur sein tragisches Ende. Im Heimwandern geraten die beiden Trunkenen in Streit, und am Ufer des Neckar, im flutenden Mondlicht der Mitternacht schlagen die beiden – ein grandioser Augenblick der Literaturgeschichte! - schlagen die beiden größten Dichter Frankreichs mit Stöcken aufeinander los. Der Kampf dauerte nicht lang. Rimbaud, dieser athletische, kräftige Bursche, entledigt sich leicht des nervösen, in Trunkenheit schwankenden Verlaine. Ein Hieb über den Kopf wirft ihn hin, blutig und ohnmächtig bleibt er am Ufer liegen. Es war ihre letzte Begegnung."

Verlaine setzt sein Boheme-Leben fort, "...und allmählich schwemmt der Alkohol die Frömmigkeit aus Verlaines Dichtung wieder weg. Die greise Mutter macht noch vergebliche Versuche, ihn zu retten; 1885 kauft sie ein Gut, um mit ihrem Sohn ein zurückgezogenes Leben zu beginnen, aber der Haltlose versäuft sich in den bäuerlichen Kabaretts und begeht dann in der Trunkenheit sein letztes, sein schmählichstes Delikt: er wird gewalttätig gegen seine fünfundsiebzigjährige Mutter und deshalb vom Tribunal zu Vouziers zu einem Monat 'wegen Gewalttätigkeit und gefährlicher Drohung' verurteilt."

Nach dem Tod der Gluckenmutter, die in ihrer Sohnesliebe Verlaine zeitlebens als overprotected child dominierte, vegetiert er, ein Original mit Faunskopf, im Pariser Quartier Latin als Penner & Dichterfürst, verachtet von der KunstBourgeoisie, die erst wieder, urplötzlich, bei der Beerdigung auftaucht und den im mitleidigen Hurenbett Verstorbenen unter Krokodilstränen feiert.


Fortsetzung folgt!

© Niels Höpfner - Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung des Autors