Der Blick auf die Mitmenschen

Cartoonisten, Karikaturisten, Portraitzeichner

von Joachim Klinger

© Otto Maier Verlag
Der Blick auf die Mitmenschen
 
Cartoonisten, Karikaturisten, Portraitzeichner

I
 
Portrait-Kunst – das wäre ein Thema! Allerdings müßte man dann bereit sein, ein Buch zu schreiben. In diesem Beitrag aber soll es „nur“ um die grafische Darstellung von Mitmenschen gehen. Um die Konzentration auf Personen und Persönlichkeiten, die in der Öffentlichkeit „eine Rolle spielen“. Meistens also Politiker, Wirtschaftsbosse, Wissenschaftler und Künstler. Gemeinsam ist allen, daß sie sich nicht dem Zeichner präsentieren, um gezeichnet zu werden. Sie sind in der Regel Objekt, ohne es zu wissen.
In den Zeitungen und Zeitschriften bestimmen das akutelle Geschehen und die Bedeutung der Personen in ihm die Auswahl. Der Cartoonist, der regelmäßig für Printmedien arbeitet, muß die Figuren der Zeitgeschichte in den Blick nehmen und aufs Papier bannen. Also beispielsweise Frau Merkel und Präsident Hollande, Bankchef Draghi und Papst Franziskus. Er muß sie in einem aktuellen und zugleich komischen Zusammenhang stellen. Beispielsweise: Bei den Verhandlungen in Minsk tief in der Nacht werden den Protagonisten Nachthemd, Schlafanzug und eine Wärmflasche gebracht.
 
Die „Mitwirkenden“ müssen für den Betrachter sofort erkennbar sein. Gute Cartoonisten entwickeln geradezu „grafische Kürzel“ für ihre Zielpersonen. In dem ergiebigen Büchlein von Manfred Limmroth „Karikaturen zeichnen“ (Otto Maier Verlag Ravensburg, 1970) stellt der Verfasser Portraitzeichnungen von Konrad Adenauer nebeneinander, wie sie z.B. H.M. Brockmann, Wolfgang Hicks und der englische Karikaturist Vicky für ihre Zeitungen ausgedacht und ausgeführt haben (S. 132). Also „der Alte“, ein listiger Fuchs mit verschmitztem Lächeln, aber auch eine unverkennbare Autorität. Jeder Künstler hat ihn auf seine Weise charakterisiert, und doch sind die Gemeinsamkeiten evident. So sah „man“ ihn damals, und das war die Mehrheit der Bevölkerung.
 
II
 
In dem Büchlein von Manfred Limmroth findet sich auf Seite 134 ein weiteres Portrait Adenauers, und zwar von Mirko Szewczuk (1919–1957),

© Rowohlt Verlag
manchem wohl noch aus der Lektüre der „Welt“ erinnerlich, die er reichlich belieferte.
Die Zeichnung ist so gut und treffend, daß der Wiederkennungseffekt garantiert ist, und doch hat sie eine „höhere“ Qualität. Sie ist einmal grafisch interessant, weil sie in einer leichten fließenden Linienführung den Kopf, das Gesicht des alten Politikers „beschreibt“, zum anderen ist sie facettenreich und komprimiert eine Reihe von Charaktermerkmalen. Nach der Betrachtung glaubt man, Adenauer näher und besser zu kennen.
Mirko Szewczuk hat bei Rowohlt in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Taschenbuch mit „Siebzig Köpfen“ unter dem Titel „Stars und Sterne“ publiziert, das seine erstaunliche Meisterschaft, Persönlichkeiten in knapper Form zu erfassen, deutlich macht. Von Louis Armstrong und Churchill reicht das Werk bis Toscanini und Zuckmayer.

Eine einfache Formensprache entwickelt auch Rolf Peter Bauer (1912–1960) aber sie ist ganz anders geartet als die von Szewczuk. Wo Szewczuk mit leichtfüßigen Linien ein Gesicht festhält und deutet, da prägt Bauer mit markantem Strich etwa ein Profil so, daß es als Abdruck für eine Medaille herhalten könnte. Immer sind die Typen getroffen und für jeden erkennbar, aber die Aussage über den Charakter ist schwächer als bei Szewczuk. Bauer bannt das Erscheinungsbild, Szewczuk blickt dahinter und schält den Charakter heraus. Gleichwohl verspricht auch das Büchlein von Bauer „Unterwegs karikiert“ (1962 erschienen bei Albert Langen Georg Müller in München) nicht nur Unterhaltung, sondern auch die nähere Bekanntschaft mit mehr oder weniger berühmten Zeitgenossen.
 
III
 
Derselbe Verlag, der Bauer die Präsentation seiner karikierten Persönlichkeiten ermöglichte, hat übrigens bereits 1959 ein Büchlein „Österreichische Profile“ herausgebracht. Diese „Profile“ stammten aus der Feder von Benedikt Fred Dolbin, geboren 1883 in Wien, gestorben 1971 in New York. Das Karikaturisten-Lexikon von Kurt Flemig (Verlag K.G. Saur, München 1993) berichtet, Dolbin habe in Wien als Pressezeichner begonnen, sei dann ab 1926 für das Berliner Tageblatt als zeichnender Reporter tätig geworden, und als „viel-beschäftigter

© Verlag Langen Müller
Portrait-Karikaturist populär und berühmt“ gewesen.
Die gesamte Prominenz der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts habe sich in seinen Skizzenbüchern wiedergefunden. Dolbin, der sich selbst als „Kopfjäger aus Leidenschaft“ bezeichnet haben soll (Karikaturisten-Lexikon S.55), verließ nach 1933 als „Nichtarier“ Deutschland und schlug sich in den USA durch (Näheres vgl. op. cit. S.55).
Dolbins Portrait-Skizzen sind weniger Karikaturen, die in wenigen Strichen Charaktermerkmale komprimieren wollen, als rasch gefertigte Zeichnungen – manchmal spürt man die Hast der Arbeit geradezu! – die das „Opfer“ in einem Augenblick oder in einer bestimmten Situation auf dem Zeichenblock festhalten wollen. Die karikaturistische Übertreibung ist dabei sekundär, die Darstellung der Person in ihrer aktuellen Haltung und Einstellung primär. Deshalb verzichtet Dolbin auf eine geschlossene Linienführung. Hat er den Ausdruck des Gesichts „erwischt“, dann genügen Andeutungen von Gliedmaßen. Der Körper im ganzen muß nicht dazugehören. Umgekehrt: ist die Hand wichtig in ihrer Gestik oder der Körper in Bewegung – z.B. bei Schauspielern und Dirigenten -, dann kann das Gesicht mit seiner Mimik vernachlässigt werden.
 
Ein anderer großer Zeichner, der gern die Köpfe von Mitmenschen auf’s Korn nahm, war Emil Orlik, 1870 in Prag geboren, 1932 in Berlin gestorben. Das bereits zitierte Karikaturisten-Lexikon sieht Orliks Bedeutung in „seinen Leistungen als Portraitist und als zeichnender Chronist der zwanziger Jahre“ des 20. Jahrhunderts (S. 207).
Das Lexikon erwähnt, daß Orlik als „Reportagezeichner“ in Brest-Litowsk bei den Friedensverhandlungen (1917) gearbeitet hat.
Die „Handschrift“ der beiden Künstler ist ähnlich. Auch bei Orlik finden wir suchende Linien, die rasch das Objekt umkreisen, Schraffierungen, die Schatten gegen die Helligkeit stellen und die Beschränkung auf das Wesentliche, d.h. was nach dem Urteil des Künstlers das Wesen der Zielperson ausmacht. Dabei ist Orlik ausgesprochen kühn, wenn er beispielsweise den berühmten Karikaturisten Olaf Gulbransson von hinten zeichnet, die Rückenansicht mit dem Stiernacken und einem mächtigen kahlen Schädel. Kein Gesicht, keine Augen, kein Mund!
Das Portrait des Dichters Joachim Ringelnatz wurde „mit so vergnügt schaukelnden Strichen verewigt“ (so der Begleit-Text des Orlik-Schülers Gerhard Ulrich in „Köpfe aus den zwanziger Jahren von Emil Orlik“, Sigbert Mohn Verlag, Güttersloh 1962), daß es später manche Gedicht-Ausgabe zieren sollte. Dieses Bild ist auch ein Beweis für die These, daß es eine gute Handzeichnung jede Fotografie übertrifft.
 
Bei den von Dolbin und Orlik portraitierten Personen muß man sich stets vor Augen halten, daß sie nicht in wartender Position saßen, um ihr Gesicht bereitwillig dem Zeichner darzubieten. Sie hatten keine Gelegenheit zu posieren. Die zeichnerische Aussage ist deshalb durch und durch ehrlich.
Noch eines wird bei der Betrachtung der Portraitskizzen klar: die Grenzen zwischen Karikatur und Zeichnung sind fließend. Weder Dolbin noch Orlik mag man als reine Karikaturisten einstufen. Bei Daumier und A. Paul Weber geht es mir übrigens ebenso.
 
IV
 
Es gibt in Deutschland eine Reihe guter Cartoonisten und Karikaturisten, die uns mit gelungenen Portraits unserer Zeitgenossen konfrontieren.
Ich denke etwa an Ernst Maria Lang (1916–2014), dem wir zahlreiche Darstellungen des Bundeskanzlers Konrad Adenauer verdanken. Prächtig die Karikaturenfolge „Adenauer während einer Oppositionsrede im Bundestag“ (vgl. Manfred Limmroth „Karikaturen zeichnen“ S. 134)! Sechs Studien, die den „Alten“ in unterschiedlichen Stimmungslagen zeigen: Aufmerksamkeit, Langeweile, Mißmut, Ärger, Entsetzen, Überlegenheit.
Zu den Aktiven gehört der jetzt 82jährige Dieter Hanitzsch, der mit sicherer Hand in Printmedien und im Fernsehen Politiker zeichnerisch präsentiert und seine spezifisch bayerische Note humorvoller Nachdenklichkeit hinzufügt.
 
Recht neue Akzente steuern aber zwei Künstler aus dem internationalen Bereich bei, und das bereits seit mehreren Jahrzehnten. Ich meine den

 © Diogenes Verlag
Amerikaner David Levine (1926 in Brooklyn geboren, 2009 verstorben) und den Italiener Tullio Pericoli (1936 in Colli del Tronto geboren).
Der Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg hat bereits 1970 ein kleines, handliches Buch publiziert, das in „Levines Lustiges Literarium“ eine größere Anzahl lebender und verstorbener Literaten versammelt, die in der Welt Rang und Namen haben. Da finden wir Albert Camus und Truman Capote ebenso wie Johann Wolfgang von Goethe und William Shakespeare.
Hier keine rasche Aufzeichnung einer Beobachtung, sondern das Ergebnis sorgfältiger und langwieriger Studien von Bildern und Dokumenten. Die Einfühlung in das Werk und das Denken der Protagonisten, die Beschäftigung mit Berichten und Anekdoten über sie, die allmähliche Annäherung an die Zielperson. Im Klappentext wird die Weltwoche, Zürich zitiert:
„Levines Karikaturen verraten mehr als manche Biographie.“
Die Köpfe der Künstlerinnen und Künstler sind meistens frontal gesehen. Die Gesichter blicken uns entgegen – forschend, nachdenklich, mißtrauisch, abweisend, spöttisch, heiter, überlegen … Wie in der Karikatur üblich, wird das Mittel der Übertreibung zur Verschärfung der Sicht auf die Person eingesetzt. Lange Nasen werden gewaltig, tiefliegende Augen werden in schwarze Höhlen eingebettet, breite Münder teilen die Gesichter und reichen bis zu den Ohren. Häufig sitzen überdimensionale Köpfe auf zwergenhaften Körpern. Bei der Colette ist es gar ein Katzenkörper und bei Robert de Montesquiou eine Art Pfau.
 
Ein Gespinst feiner Schraffuren ertastet den Schädel und Gesicht und bemüht sich in der Verdichtung um den Ausdruck der Persönlichkeit, gesammelter Ernst oder heitere Gelassenheit, grüblerische Melancholie oder geballte Leidenschaft.
Ja, hier haben wir Zeugnisse eines Genies. Ein Genie, das manchem genialen Menschen gerecht geworden ist. Jede einzelne Zeichnung möchte man lange lesen. In seinem Vorwort zu „Levines Lustiges Literarium“ würdigt John Updike, selbst von Levine hervorragend portraitiert, den Künstler und sein Werk. Lesenswert!
Tullio Pericoli darf man getrost an die Seite von David Levine stellen. Auch von ihm liegt eine umfangreiche Sammlung von „Portraits“ vor, das der verdienstvolle Diogenes Verlag Zürich 1992 herausgebracht hat (mit einem Vorwort von Umberto Eco).
Manchmal mag Pericoli in seinen Zeichnungen eine Spur flüchtiger sein als Levine, aber in den meisten Arbeiten ist er absolut ebenbürtig. Das zeigt jedenfalls der Vergleich von den Portraits, die Levine und Pericoli von derselben Person gefertigt haben, etwa Louis-Ferdinand Céline, Philip Roth und Ludwig Wittgenstein. Noch direkter als bei Levine blicken uns die Portraitierten in die Augen. Blicke, die uns zur Auseinandersetzung auffordern!
Geradezu fasziniert bin ich von dem Portrait des greisen Dichters Ezra Pound (Nr. 98), der mir wie ein Magier zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts vorkommt.
In der Strichtechnik sind sich Levine und Pericoli manchmal sehr ähnlich, in ihrer künstlerischen Leistung halte ich sie für gleichwertig. Beide sind sie Meister!


Redaktion: Frank Becker