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 Märchenträume – Zauberwelten I Schön,  daß es das Bilderbuchmuseum Burg Wissem der Stadt Troisdorf gibt! Wer  einmal dort war, bewahrt einen Schatz wunderbarer Erinnerungen. Die  Sammlungsbestände, deren Fundament von Wilhelm Alsleben stammt, sind  seit 1982 ständig erweitert worden, etwa durch die Kinder- und  Jugendbuchsammlung von Theodor Brüggemann und die Rotkäppchen-Bücher des  Schweizer Ehepaares Elisabeth und Richard Waldmann. Daß  sich das Kinderbuch-Museum nicht auf die Präsentation von Texten und  Bildern beschränkt, sondern eine unerhörte Lebendigkeit mit  Veranstaltungen und Workshops entfaltet, soll nur erwähnt werden.  Hervorzuheben ist aber, daß es seit 2005 etwas ganz Besonderes gibt, das  man als Glücksfall für uns alle bezeichnen mag: auf Anregung der  Illustratorin Rotraut Susanne Berner wurde eine „Stiftung Illustration“  gegründet. Sie ist angegliedert an das Museum, sozusagen eine kleine,  muntere Schwester. Das  Ziel ist, das Andenken an Illustratoren aus dem Bereich des Kinderbuchs  zu pflegen. Das geschieht einmal durch den Erwerb und die
             
 Dieses Lexikon ist als Loseblatt-Sammlung konzipiert, ein Werk also, das durch Nachlieferungen ständig ergänzt wird. Über  2000 Originalillustrationen besitzt die Stiftung bereits, darunter  Bilder von Jutta Bauer und Beatrice Braun-Fock, Nikolaus Heidelbach und  Reiner Zimnik. Was  das Lexikon angeht, so gibt es bereits mehr als 70 ausführliche  Darstellungen über Illustratorinnen und Illustratoren. Auffällig ist die  Mischung von berühmten, verstorbenen Künstlern und solchen, die uns  aktuell erfreuen und von denen wir noch manches erwarten dürfen. Von den  großen Verstorbenen seien genannt: Franziska Bilek und Jürgen Spohn,  Friedrich Karl Waechter und Alfred Kubin. Unter den unermüdlich Aktiven  sind Quint Buchholz und Wolf Erlbruch, Lisbeth Zwerger und Klaus  Ensikat. Dominante  Gestalten der Illustrationskunst wie Ernst Kreidolf, Fritz Baumgarten  und Ida Bohatta bleiben ausgespart, wohl weil Biographien zu ihnen  vorliegen. Es ist klug, alt und jung zu mischen. So wird das Angebot breiter gestreut, und es werden mehr Interessenten gewonnen. II Ohne  den weiteren Vorhaben der Stiftung Illustration vorgreifen zu wollen,  möchte ich an vier Illustratorinnen erinnern. Dies umso mehr, als sie  angesichts der Fülle von Illustratoren und Illustratorinnen übersehen  werden könnten. 
 Da ist zunächst Bele Bachem, geboren 1916 in Düsseldorf,  verstorben 2005 in München. In der unmittelbaren Nachkriegszeit  entzückten mich ihre scheinbar spielerisch hingeworfenen Zeichnungen.  Sie waren graziös und hatten eine französische Leichtigkeit, wie sie mir  später bei den Franzosen Raymond Paynet und Jean Effel begegnete. Es  paßte zu ihr, daß sie sich zum Theater hingezogen fühlte und  Bühnenbilder entwarf. Daß sie für die Firma Rosenthal Porzellan mit  zierlichen Figuren und Szenen versah. Daß sie auch für den Film  arbeitete (z.B. Vorspann zum Film „Das Wirtshaus im Spessart“). Kurt  Flemig bescheinigt ihr in seinem Karikaturisten-Lexikon (K.G. Saur,  München 1993) „heitere Dekadenz“ und „aparte Anmut“.  In  Heft 2 der Zeitschrift „Das Kunstwerk“, Jahrgang 1946, von Woldemar  Klein (Baden-Baden) unmittelbar nach Kriegsende 1945 ins Leben gerufen,  werden Bilder aus einem Zyklus gezeigt, der in lockerer Folge  „Beruftstätigkeiten“ nebeneinander stellt. Da gibt es den „Schuster“,  der zufrieden auf ein zierliches Mädchen mit hübschen Stiefelchen  blickt, den Bauern und den Bürgermeister, aber auch – charakteristisch  für den schelmischen Blick der Künstlerin und ihre Zuneigung zum Zirkus  und Theater – die Musikerfamilie und die Löwenbändigerin. Die von ihr  illustrierten ca. 50 Bücher legen Zeugnis ab von reicher Phantasie und  Gestaltungskraft. Eine weitere Künstlerin nenne ich: Hanna Nagel,  geboren 1907 in Heidelberg und dort 1975 verstorben. Kurt Flemig  scheint sie übersehen zu
             
 Hanna  Nagel war eine Grafikerin von hohem Rang. Während Bele Bachem in ihrer  anmutig-spielerischen Art extrovertiert daher kommt, erscheint uns Hanna  Nagel als introvertierte, in sich gekehrte, grüblerische Natur. Sie ist  starker und inniger Gefühle fähig, macht aber auch eine Zärtlichkeit  spürbar, die ihren Ausdruck in Bildern von wunderbarer Zartheit findet.  In vielen Werken geht es um Kindsein und Mutterschaft, um Liebe und  Zweisamkeit: Aber auch Verlassenheit und Leid werden thematisiert. Ihre  Zeichenkunst schafft Bilder von großer Dichte; Dunkelheit kontrastiert  mit durchsichtiger Helle; die Rundungen eines Gesichts werden liebevoll  schraffiert. Der unvergeßliche Kalender „Der kleine Freudenbringer“ brachte Jahr für Jahr schöne und anrührende Blätter von ihr. Ich  hüte das von ihr illustrierte Buch „Die Sternenprinzessin“, ein Märchen  von Vivian Wall, das wohl bald nach dem zweiten Weltkrieg vom Gerhard  Stalling Verlag in Oldenburg publiziert wurde (keine Jahreszahl). Der  Zauber eines Märchens wird hier grafisch meisterhaft eingefangen. III Um  zwei weitere Künstlerinnen geht es, die manches miteinander verbindet.  Zum einen eine tiefe Religiosität, zum anderen eine künstlerische Kraft  zur Verzauberung, die sich auf die Betrachter der Bilder überträgt. Es  handelt sich um Sulamith Wülfing und Roswitha Bitterlich (die beiden  Vornamen könnte man auch Zauberinnen zuordnen). Sulamith Wülfing  (1901 bis 1989) hatte ihren Lebensschwerpunkt ganz überwiegend in  Wuppertal. Sie entstammt einem religiös gebundenen
             
 Nach  ihrem Kunststudium gründete sie sehr bald einen eigenen Verlag, der  ihren Namen trug. In ihm erschienen Kartenserien und Mappenwerke,  Kalender und Bücher. Das  Verzeichnis der Neuerscheinungen 1959/60 führt beispielsweise auf: die  Serie „Im Tempel“, 6 Kunstpostkarten „von der Heiligkeit des Baumes“,  das Buch „Die kleine Seejungfer“ von Hans Christian Andersen mit  Illustrationen von Sulamith Wülfing, eine Christusmappe und den Kalender  für 1960 „Zur Freude“. Dies läßt schon in etwa die Bandbreite des  künstlerischen Schaffens von Sulamith Wülfing erkennen. Es geht um die  Einführung in Texte und ihre Illustrierung, um die Zusammenführung von  Märchengestalten, um die Bebilderung von Geschichten, die  Glaubensinhalte vermitteln. Fast immer begegnen wir „anderen Welten“,  die aber in unser Leben hineinwirken. Verschrumpelte Wurzelweiber  bewundern ein kleines Kind, ein zartes Mädchen fegt Schnee, umgeben von  Gnomen mit Zipfelmützen, ein schönes Paar, in sich und seine Liebe  versunken, ruht am Wegrand. Das  Schöne und Reine steht neben dem Häßlichen und Garstigen. Besonders gut  gelingen der Künstlerin grazile Geschöpfe, sanfte Engel mit großen  Augen, junge Frauen, die mit ihren schmalen Händen Blumen binden,  ängstliche Tiere berühren oder streicheln. Persönlich mag ich am meisten  die groteske Mischung von anmutigen Gestalten und kriechendem Getier,  von gefährlichen Fabelwesen, bärtigen Zwergen und frechen Kobolden. Ein  besonders hübsches Bändchen versammelt sie alle, es heißt „Neckisch, gut  und böse“ (Verlag V.O.C. – Angel Books, Amsterdam 1980) und ist eine  Rarität. Ich hätte mir gewünscht, Sulamith Wülfing wäre beauftragt  worden, den „Hobbit“ von J.R.R. Tolkien zu illustrieren, vielleicht  sogar seinen „Herrn der Ringe“ … Die  „anderen Welten“, die uns im Werk von Sulamith Wülfing begegnen, bergen  das Geheimnis des Fremdartigen, des Erstaunlichen und lassen uns am  „Wunder“ teilhaben, mag es sich im Bereich des Märchenhaften ereignen  oder jenseitige Regionen des Heiligen berühren. Soweit ich sehe, hat  Sulamith Wülfing beides immer zu vereinbaren gewußt. Ihr umfangreiches  Oeuvre belegt das bis ins Alter. Eine andere Entwicklung hat Roswitha Bitterlich genommen. Sie ist Österreicherin und wurde 1920 in Bregenz geboren.
             
 Wie  Sulamith Wülfing erfuhr sie in ihrem Elternhaus eine starke religiöse  Prägung; ihre Mutter Gabriele wurde später Gründerin des „Opus  Angelorum“, ihr Bruder Hansjörg wurde zum Priester geweiht. Schon  in frühester Kindheit begann Roswitha Bitterlich zu zeichnen, auch um  den jüngeren Geschwistern Freude zu bereiten. Gestaltungskraft und  Umfang ihres künstlerischen Schaffens waren so außerordentlich, daß sie  bald als „Wunderkind“ gefeiert wurde und bereits in den Dreißiger Jahren  des vorigen Jahrhunderts Ausstellungen ihrer Arbeiten in Wien, Prag,  Amsterdam und Kopenhagen erleben durfte. Ihr  rühriger Vater Hanns Maria Bitterlich gab 1937 im Innsbrucker  Selbstverlag einen „Katalog Roswitha Bitterlich“ heraus, der das  Gesamtwerk der jugendlichen Künstlerin akribisch auflistete: 420  Eintragungen! Der  Verlag Felizian Rauch in Innsbruck und Leipzig publizierte 1936 den  eindrucksvollen Großband „Roswitha Bitterlich - Schwarz-Weiß-Kunst“ mit  74 Abbildungen (Text in deutscher, englischer und französischer  Sprache!). Die darin enthaltenen grafischen Arbeiten reichen vom  Märchenhaft-Grotesken bis zum Religiös-Sakralen (z.B „die Opferung“),  von Skizzen alltäglichen Geschehens bis hin zu architektonischen  Entwürfen. Man spürt in den Bildern Ernst und Erschütterung, aber auch  Humor und freundliche Zuwendung. Für  meine Generation (Kinder der Dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts)  war die Begegnung mit Roswitha Bitterlich ein großes, beglückendes  Erlebnis. Dieses vollzog sich im emsigen Sammeln der kleinen farbigen  Bilder, die den Packungen von Haferflocken der Firma Kölln / Elmshorn  beilagen. Wir Kinder aßen mehr Haferflocken, um an die zauberhaften  Bildchen zu gelangen. Wir tauschten in der Schule diejenigen, die wir  doppelt oder dreifach vorgefunden hatten. Wir schrieben an die Firma  Kölln, um noch fehlende Bilder zu erhalten, und wir bestellten die  Sammelalben. „Mit Roswitha ins Märchenland“, so hieß ein Sammelband, und  das war unsere Devise. Worin  lag der besondere Reiz dieser Bilder, was hob sie heraus aus den vielen  Serien der Sammelbilder, die z.B. Zigaretten-Packungen oder Liebigs  Fleisch-Extrakt beilagen? Roswitha  Bitterlich „ergänzte“ nicht unsere Welt um Märchengestalten, sie nahm  uns an die Hand und führte uns in ihr eigenes geheimnisvolles Reich, in  dem Wichtel neben drolligen Pilzen saßen, sich vor dem Krampus und  anderen gefährlichen Gestalten in Sicherheit brachten oder den armen,  alten und kranken Zwergenkönig pflegten.  Das  Reich der Roswitha Bitterlich war eine wunderbare Einheit von  Geborgenheit und Vertrauen; da lebten Elfen mit Tieren und Gnomen in  Harmonie, nie ernsthaft bedroht, aber manchmal doch von finsteren  Erscheinungen gestört. Erwachsene kamen nicht vor in dieser Welt der  kleinen Tiere, der Wichtel und Kobolde. Und schließlich: alles dies  hatte ein Kind, ein Kind wie wir, gemacht! Da  konnten die vielen Bilderbücher nicht mit. Fritz Baumgarten war  beliebt, aber er zeigte uns, wie in der bekannten Natur plötzlich  Wichtel aus Schlupflöchern auftauchten. Sonst wurde alles so  dargestellt, wie wir es kannten. Ida Bohatta kam Roswitha Bitterlich  wohl nahe mit ihren kleinformatigen Büchern. Mäusegeschichten,  Bären-Erlebnisse, Osterhasen-Ausflüge usw. Aber „unsere“ Roswitha blieb  unerreicht. Erst  der schreckliche 2. Weltkrieg machte dem ein Ende. Danach waren wir  keine Kinder mehr. Roswitha Bitterlich wanderte nach Brasilien aus. Sie  scheint sich ganz auf religiöse Motive konzentriert zu haben. Auch das  Innere von Kirchen in Brasilien soll sie ausgestaltet haben. Wir, die Sammler ihrer Bildchen, werden sie nie vergessen! © 2015 Joachim Klinger | 


 
 



