Max Beckmann und Berlin

Der Katalog zur Ausstellung

von Joachim Klinger

Max Beckmann und Berlin
 
Eine Ausstellung der Berlinischen Galerie
(Der Katalog)
 
Zu ihrem 40. Geburtstag „schenkte sich” die Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur -, die vor 40 Jahren von einem Verein kunstsinniger Bürger gegründet wurde, eine bemerkenswerte Ausstellung von Werken Max Beckmanns. Bemerkenswert ist diese Ausstellung deswegen, weil sie die Beziehung des jungen Malers zur Kunstmetropole Berlin eindrucksvoll herausarbeitete, seine Entwicklung in und mit der Reichshauptstadt begleitet und damit neue Perspektiven eröffnet hat.
 
Stationen des Lebens von Max Beckmann, der 1884 in Leipzig geboren wurde, waren nach seiner Geburtsstadt die Reichshauptstadt Berlin (1904-1917 und 1933–37), Frankfurt am Main (1917-1933), wo er an der Städelschule lehrte, Amsterdam (1937-1947), der Fluchtort der Emigration, und schließlich New York (1947-1950), wo er bei einem Spaziergang einem Herzleiden erlag.
Schon bald nach dem 2. Weltkrieg erinnerte man sich in Deutschland dieses Künstlers, der allerdings die Berufung an die Hochschule für Bildende Künste in Berlin ablehnte. Stattdessen nahm er ein Angebot der School of Art der Washington University in Saint Louis an.
Lothar-Günther Buchheim gab 1954 ein Büchlein mit Holzschnitten, Radierungen und Lithographien Beckmanns heraus und versah es mit einer zupackenden Einführung. Er betonte darin die „künstlerische Vehemenz” und nannte Beckmanns Produktion „das Werk eines Titanen”.
Der Verlag R. Piper & Co., München, veröffentlichte zwei Bändchen, einmal „Max Beckmann – Der Zeichner” (1954) und zum anderen „Max Beckmann – Der Maler (1957). In beiden macht Erhard Göpel, ein häufiger Besucher des Ateliers von Max Beckmann und Kenner seiner Werke, mit dem Oeuvre des Künstlers bekannt. Er läßt vor unseren Augen die Gestalt eines selbstbewußten, durchsetzungsfähigen Mannes erstehen, der unbeirrbar bemüht ist, sich und sein Werk voranzubringen.
Dieser Wille führt den damals Zwanzigjährigen im Sommer 1904 nach Berlin, einem Zentrum des Kunstgeschehens und für den jungen Leipziger ein Magnet. Er bezieht Wohnung und Atelier in Berlin-Schöneberg, wohin ihm seine spätere Frau Minna Tube folgt. 1905 entsteht hier sein Gemälde „Junge Männer am Meer”, das mit Max Liebermanns „Badende Jungen” (1900) zu korrespondieren scheint. Aber während bei Liebermann unbefangene Jugend sich im Wasser tummelt, sind Beckmanns Jünglinge in sich gekehrte Naturen, die noch unschlüssig eigenen Gedanken nachhängen (Katalog S. 32/33).
 
Man kann sich vorstellen, daß Malern wie Liebermann und Corinth dieses Bild gefiel, daß es so recht „auf ihrer Linie” lag. In der Tat erweist sich dieses erste Werk als „Türöffner”. Es wird auf der Dritten Ausstellung des deutschen Künstlerbundes 1906 in Weimar gezeigt und erhält den Villa Romana-Preis, der mit einem Stipendium in Florenz verbunden ist. Die Kritik lobt das Bild, Harry Graf Kessler, bekannter Sammler und Kunstkenner, setzt sich für Beckmann ein und erreicht den Ankauf beim Weimarer Museum.
Freilich macht sich Beckmann nicht nur Freunde bei der Präsentation seiner Werke auf weiteren Ausstellungen. Er greift ungewöhnliche Themen auf wie z.B. „Kranke Kinder”, „Sterbeszene”, „Die Schlacht”, „Sintflut” und „Schiffbruch”. So muß er sich auch harsche Kritik gefallen lassen wie die von Ewald Bender im „Kunstwart” (zitiert nach dem Katalog der Ausstellung S. 237): „Mit der Palette des Impressionismus füllt man keine Riesenleinwände und löst man keine monumentalen Aufgaben ….“
 
Andererseits überzeugen manche Gemälde so sehr durch hohe malerische Qualität, daß Lob und Anerkennung nicht ausbleiben können. Etwa das Portrait der Gräfin Hagen, das 1910 im Kunstsalon Paul Cassirer gezeigt wird und auch in der aktuellen Ausstellung der Berlinischen Galerie zu sehen ist. Dieses Bild erfaßt die Persönlichkeit einer ungewöhnlichen Frau so zwingend und bringt sie mit ihrem direkten Blick in die Augen des Betrachters so nahe, daß man von einem Gipfel der Portraitkunst sprechen darf. Hier steht Beckmann gleichrangig neben so bedeutenden Portraitkünstlern wie Max Liebermann, Lovis Corinth, Max Slevogt und Oskar Kokoschka.
Es überrascht nicht, daß Beckmann 1910 als jüngstes Mitglied in den Vorstand der Berliner Secession gewählt wird. Obwohl er bereits 1911 aus dem Vorstand austritt, bleibt er doch Mitglied und stellt dort weiter aus.
In den Jahren 1906 bis 1914 entstehen Straßenbilder, die wohl als Serie gedacht waren (so der Katalog-Beitrag auf Seite 97). Sie sind im spätimpressionistischen Stil gestaltet, der die Grenze zum Expressionismus berührt. Die Malweise ist merkwürdig breiig und damit kaum strukturiert. Die Kompositionen bleiben verschwommen, unklar und wirken irgendwie unfertig. Zweimal der Nollendorfplatz, einmal 1911 von Max Beckmann gemalt, einmal 1912 von Ernst Ludwig Kirchner in Szene gesetzt. (In der Ausstellung hängen beide Bilder nebeneinander). Was für ein Unterschied! Bei Kirchner ein eindeutiges Spannungsverhältnis mit den sich begegnenden Straßenbahnen auf der Straßenkreuzung, bei Beckmann mattes Ensemble von Bauten (vgl. Katalog S.98/99).
 
1914 spaltet sich die Berliner Secession, es bildet sich eine sogen. Freie Secession, in deren Vorstand u.a. Max Beckmann und Wilhelm Lehmbruck gewählt werden. Vom 12.04. 1914 bis Ende September stellen sich die Künstler im Ausstellungshaus am Kurfürstendamm vor, darunter Beckmann mit drei Gemälden („Landschaft”, „Ringkämpfer” und „Straße”). Die Kritik ist negativ. Adolf Behne schreibt in „Die Gegenwart” (zitiert nach dem Katalog S.242): „… bei ihm (gemeint ist Max Beckmann) liegt die Jugend wirklich nur in den Jahren. Die Bilder, die Beckmann diesmal zeigt, wirken nahezu greisenhaft.” Was ist passiert? Hat Max Beckmann den Anschluß an die Moderne verpaßt? Aber was ist die Moderne?
Max Beckmann kannte Edvard Munch, der 1904 als ordentliches Mitglied in die Berliner Secession aufgenommen worden war. Ihn muß nach dem Tod der eigenen Mutter insbesondere die Darstellung Munchs „Der Tod im Krankenzimmer” (Lithografie 1896) beeindruckt haben. 1906 malt er die „Kleine Sterbeszene” mit groben Pinselstrichen in düsteren Farben (Katalog S.37).
Vor einer roten Tapete steht ein schwarz gekleideter Jüngling und starrt fassungslos den Betrachter an, daneben verschwommen andere trauernde Gestalten, im Hintergrund des Nebenzimmers umringen verzweifelte Menschen eine Lagerstätte. Nicht schlecht! – möchte man sagen. Aber es reicht nicht an die bedrückende Darstellung Munchs heran. Es scheint, als habe Munch Beckmann zu ermutigen gesucht, an diesem durchaus neuen Ansatz weiterzuarbeiten, aber er blieb erfolglos. Die Malweise Beckmanns war noch nicht geeignet, den Ausdruck von Trauer und Tragik zu bannen.
 
Aber auch in anderer Hinsicht war Max Beckmann vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht auf der Höhe seiner Zeit. Seine Aufenthalte in Paris (1903, 1906) hatten ihm nicht die Augen für wichtige, Impuls gebende Entwicklungen in der französischen Malerei geöffnet. Nach einem Besuch im Salon Cassirer 1909, wo Bilder von Henri Matisse gezeigt wurden, schrieb er (zitiert nach dem Katalog S.56): „Die Matisseschen Bilder mißfielen mir höchlichst. Eine unverschämte Frechheit nach der anderen. Warum machen die Leute nicht einfach überhaupt Zigarettenplakate …”
Die Leichtigkeit dieser modernen Malerei, die mit Farben und Formen zu spielen schien, muß dem Schöpfer gewaltiger Kompositionen, in denen es um dramatische Inhalte ging, contre coeur gegangen sein.
Beckmann sah sich als eine Art „deutschen Delacroix”. In einer schriftlich ausgetragenen Kontroverse mit Franz Marc in der Zeitschrift „Pan” (1912) beruft sich Beckmann auf so große Gestalten der Kunstgeschichte wie El Greco, Goya, Géricault und Delacroix und verwirft die dekorative Flächigkeit der avantgardistischen Kunstströmungen – Beckmann geht es um Inhalte und die Gestaltung des Raums. Die Maler der Künstlergemeinschaften „Die Brücke” (Dresden) und „Der Blaue Reiter” (München) lehnt er weitgehend ab und versagt ihnen als Mitglied der Secession seine Unterstützung.
Obwohl seine eigenen Werke fast ungestüm expressiv angelegt sind, empfindet er die expressionistische Malerei als kunstgewerblich und flach. Sein Stil stand jedoch dem Streben nach Ausdruck und der Bewältigung dramatischen Geschehens entgegen. Er brauchte einen neuen Stil, der seiner schöpferischen Kraft adäquaten Ausdruck verlieh.
 
Man muß vorsichtig sein, wenn man Wendemarken im Leben eines Künstlers ausmachen will. Zu leicht werden persönliche Situationen als ausschlaggebend für eine neue Entwicklung angesehen. Aber wer sich dem Blick Max Beckmanns zu seinem „Selbstbildnis als Krankenpfleger” (1915) stellt, begreift eine Erschütterung, die sich künstlerisch auswirken muß. Der Einsatz als Sanitätssoldat führt zunächst zu einem physischen und psychischen Zusammenbruch, dann zu einer Entlassung aus dem Militärdienst. Das Kriegserlebnis wird ihn lange begleiten. 
In Frankfurt am Main, nicht in Berlin bei der Familie, versucht Beckmann Kräfte zu sammeln und zur inneren Klarheit vorzudringen. Er erfindet einen Stil, den er selbst als „transzendente Sachlichkeit” bezeichnet (zitiert nach dem Katalog S.141), gestaltet das Mappenwerk „Die Hölle” (1919), das ihn stilistisch in die Nähe von Kirchner und Heckel bringt, und er malt das „Frauenbad” (1919).
Dieses Bild zeigt die große Könnerschaft des Künstlers auf völlig neuartige Weise. Er bändigt auf engem Raum eine Ansammlung von Frauen und Kindern in vielfältigen Bewegungen und bewahrt zugleich ihre Individualität. Farbgebung und Licht verleihen der Komposition eine überzeugende Einheitlichkeit, die Fülle der Personen ist in eine klare Ordnung eingebunden. Ein Meisterwerk! (Abbildung in Katalog S.143).
Das „Selbstbildnis mit Sektglas” aus dem Jahr 1919 macht spürbar, daß sich Beckmann gefunden hat. Aufmerksam-kritisch betrachtet er die Umwelt. Noch selbstbewußter zeigt ihn das „Selbstbildnis vor rotem Vorhang” aus dem Jahr 1923. Die schwarze Melone auf dem Kopf leicht verschoben, den Schal schwungvoll über die Schulter geworfen, hält er die Zigarre in der Hand vor weißem Hemd und cremiger Weste.
Energisch blickt er dem Betrachter entgegen. Im selben Jahr beteiligt sich Beckmann an Ausstellungen in Dresden, Hannover und Darmstadt.
Die großen Bilder „Fastnacht Paris” (1930) und „Große Gewitterlandschaft” (1932) sind so kraftvoll gemalt, daß sie beinahe wuchtig wirken (Katalog S.154/5). Die Farbe Schwarz betont nicht nur Konturen, sie bringt auch die übrigen Farben wie Rot, Grün und Blau zum Leuchten und schafft räumliche Tiefe.
 
Am stärksten gelangt die Farbe Schwarz zur Wirkung in dem Gemälde „Die Loge” (1928) und in Beckmanns „Selbstbildnis im Smoking” (1927). Das Gemälde „Die Barke” hingegegen aus dem Jahr 1926, in hellen, fast freundlichen Farben gehalten, besticht durch die kühne Frontalansicht in ein Boot mit Menschen und seine schwungvolle Fortbewegung vom Betrachter weg auf’s Meer (Katalog S.169). Dieses Bild wird anläßlich des 60. Geburtstages des Kunstkritikers Julius Meier-Graefe von Kunstfreunden der Berliner Nationalgalerie gestiftet, so daß Max Beckmann hier mit einem Werk Einzug hält.
1927 findet auch eine erste Ausstellung mit Gemälden Beckmanns in New York statt. Der Weg zum Erfolg, und zwar zu einem dauerhaften, ist gesichert.
 
Ich sehe Max Beckmann primär als Maler, der in seinen Gemälden Gestalten von ungeheurer Plastizität in den sich weitenden Raum stellt. Der aber immer auch große Themen aufgreift und auf seine Weise formt. Als Grafiker ist er beachtlich, fügt sich aber in die Reihe der gesellschaftskritischen Beobachter wie George Grosz und Otto Dix ein.
In der Zeit des politischen Umbruchs zieht Max Beckmann 1933 nach dem Verlust seiner Anstellung bie der Städelschule in Frankfurt am Main mit seiner Frau „Quappi” (Mathilde von Kaulbach), die er nach der Scheidung von Minna Tube 1925 geheiratet hat, nach Berlin. Dort ensteht 1935 eines seiner bedeutesten Bilder: „Der Leiermann” (im Katalog S.201).
Die um den livrierten Jüngling mit dem Leierkasten versammelten Personen wirken bedrohlich und zugleich gefährdet, düster und unheimlich. Zwei von ihnen sind verhüllt, ein Dritter trägt eine Augenbinde. Links über dem Kopf des Leiermanns leuchtet ein blutbeflecktes Schwert auf. Das ganze Bild kündet von einem drohenden Verhängnis.
Dieses Bild erwarb Lilly von Schnitzler, Ehefrau des Vorstandsmitglieds der IG-Farben Georg von Schnitzler, eine gute Freundin Max Beckmanns und wichtige Mäzenin (ihr unvollendetes Portrait wird in der Ausstellung gezeigt, vgl. Katalog S.199). Besuchten Nazi-Bonzen die Schnitzlers, war das große Gemälde kurz zuvor hinter einem grünen Vorhang verschwunden …
Mit dem Jahr 1937 ist das Kapitel Berlin für Max Beckmann beendet. Seine Bilder im öffentlichen Besitz werden beschlagnahmt, mehr als zwanzig seiner Werke präsentiert die Münchener Ausstellung „Entartete Kunst”. Am 17. Juli 1937 gehen Max Beckmann und seine Frau ins Exil nach Amsterdam. Zehn Jahre später verlassen sie Europa und reisen mit dem Schiff nach New York.
 
Wie oft bin ich Werken von Max Beckmann in meinem Leben begegnet! Bilder im Westfälischen Landesmuseum Münster und in der Kunsthalle Bielefeld stehen mir vor Augen, aber auch ein Triptychon in der Universitätsgalerie von Iowa / USA. Wie oft hörte ich von Ausstellungsbesuchern die Worte „grob”, „roh” und „brutal”! Aber Beckmanns figürlichen Bilder sind einfach überwältigend, seine künstlerische Kraft ist immens. Man muß sich ihr stellen …
Die Ausstellung in Berlin lehrt uns Max Beckmann und sein Werk besser verstehen. Die Anschaffung des Katalogs – ein Kompendium an Informationen und sachdienlichen Hinweisen – lohnt sich. Neben fachlichen Beiträgen, die allesamt lesenswert sind, findet man zwei höchst interessante Zusammenstellungen zeitgenössischer Kritiken und eine anschauliche biografische Zeittafel. Mich freuen außerordentlich die kurzen Zusammenfassungen in Großschrift (je eine Seite) vor den Fachbeiträgen. Für Kunstliebhaber ein bleibender Schatz im Bücherschrank! Der Katalog ist im Kerber VErlag erschienen und kostet 34,80 €.
 
Sehenswerte Filme zur Ausstellung: www.youtube.com/  -  www.youtube.com/