Vor 200 Jahren wurde Carl Spitzweg geboren

Ein Geburtstagsglückwunsch

von Frank Becker
Der ewige Hochzeiter, um 1875
Der ewige Hochzeiter

Am 5. Februar 1808 wurde in München
der Maler Carl Spitzweg geboren

Er ist gewiß der bekannteste deutsche Maler des Biedermeier, Chronist einer beschaulichen Welt zwischen der großen Zeit der ausklingenden Romantik, in die er hineingeboren wurde und dem Vormärz als Signal der nicht aufzuhaltenden Moderne in Politik, Wirtschaft und Kultur. 1812, als er vier Jahre alt war, gaben die Brüder Grimm erstmals ihre "Kinder- und Hausmährchen" heraus, in seinem sechsten Lebensjahr ordnete der Wiener Kongreß die europäische Welt neu, und die erste Lokomotive fuhr. 1815 erschien Gustav Schwabs "Neues deutsches allgemeines Commers- und Liederbuch" als Tribut an die studentische Freiheitsbewegung, doch schon1819 wurde die Pressezensur verstärkt und die deutschen Burschenschaften als demagogische Bewegung staatlich verfolgt. Frei war man im Deutschland der Kleinstaaten nur scheinbar.

Carl Spitzweg, ursprünglich Apotheker wie Theodor Fontane und Henrik Ibsen, hielt mit Pinsel und Farbe auf Leinwand im Bild fest, was nicht mehr lange sein würde, ja eigentlich so auch gar nicht war. Nicht ohne Grund wird er, der vordergründig eine deutsche Gemütlichkeit zeigte, heute durchaus als Kritiker seiner Zeit gesehen, ein liebenswürdiger Karikaturist der angestaubten Biederkeit, nach der man sich ein wenig sehnt und vor deren Muff man sich ebenso fürchten kann. Denn was wir heute schätzen, nämlich Meinungsfreiheit,

Kunst und Wissenschaft, um 1880
politische Liberalität und soziale Offenheit waren zu Spitzwegs Zeit und in seinen Bildern noch weit fern.
Dennoch: blättert man in der Unzahl von Bildbänden zu Spitzwegs Werk, deren wenigstens eines wie die Bildergeschichten Wilhelm Buschs in fast jedem deutschen Bücherschrank steht und die besonders in diesem, seinem 200. Geburtsjahr neu erscheinen, kommt trotz aller Zeitkritik diese von Sehnsucht gespeiste gewisse Behaglichkeit auf. Das Postkutschenzeitalter - ich möchte trotz besserer Straßen heute nicht mit einer Kutsche reisen müssen! - hat eben seinen Charme, die nächtliche Serenade unter dem Sternenzelt war etwas ehrliches, das Staunen über Wissenschaft und Forschung war echt. Aus der Wißbegier dieser Zeit entstand das Neue. Carl Spitzweg erlebte den Auf- und Umbruch des 19. Jahrhunderts. Seine Bilder schauen mit mildem Spott auf die Idealisierung des Vergehenden.

Kleinstaaterei (daher die vielen Bilder von Zoll-Revisionen) und Kleinstädterei sind die Welt seiner Bilder. Ob es der Postbote, der Candidat der Theologie, der "arbeitslose" Soldat, der Bücherwurm, Kakteenfreund oder Schmetterlingssammler ist, der Hypochonder, der verliebte Student, der Witwer oder die Familie beim Sonntagsspaziergang, schlicht: der Kleinbürger in all seinen skurrilen Erscheinungsformen ist sein Thema. Es ist eine Zeit des Friedens, in der man kriegsmüde zwar noch eine Armee hat, die aber ist zur erwünschten Tatenlosigkeit verdammt. Der

Der strickende Vorposten, um 1860
strickende, gähnende, ja schlafende Wachtposten legt Zeugnis ab. Man musiziert, plaudert, pflegt seinen Blumentöpfe oder geht der stillen Tagesbeschäftigung nach. Ohne Eile, versteht sich. Die erstarkende Beamtenschaft, die er in Bureau- und Amts-Genres verewigt, der
reisende Landesvater, der Eremit, der Zeitungsleser oder die Internatsklasse beim Ausflug, Carl Spitzweg malt, was um ihn herum geschieht. Er idealisiert seine Szenerien, schenkt ihnen Sonnenschein, blauen Himmel und stilles Wohlbehagen: „Die Welt muß romantisiert werden, so findet man den ursprünglichen Sinn wieder.“ Regnen darf es allenfalls, wenn man drinnen ist, da aber dann auch gleich durchs Dach, wie eines seiner berühmtesten Gemälde, "Der arme Poet" humorvoll illustriert.

In seine nahezu erfüllte Lebensspanne fielen u.a. Beethovens 9. Sinfonie, Goethes Spätwerk, Hegels und Schlegels Philosophie, die Erfindung des Morse-Telegraphen, der Daguerrotypie, des Walzen-Phonographen, des Telephons und der Glühbirne, die deutsche Märzrevolution (Spitzweg gehörte dem Münchner Künstler- Freikorps an), Darwins Abstammungslehre, Wagners "Ring der Nibelungen", die Malerschule von Barbizon, die ihn wesentlich beeinflußte, der amerikanische Sezessionskrieg, Wilhelm Buschs Zeichengeschichten, die

Ein Hypochonder, um 1869
Werke Böcklins, Trübners, Courbets, Monets, Kaulbachs und Feuerbachs, Menzels, Manets und von Schwinds. Er erlebte das Auftauchen und den Mord an Kaspar Hauser, die erste deutsche Republik, den deutsch-französischen Krieg und die Gründung des Kaiserreichs von 1871 unter Wilhelm I. Jules Verne schrieb seine zukunftweisenden Romane, Ibsen den "Peer Gynt", Dostojewskij "Schuld und Sühne" und Karl Marx "Das Kapital", Baudelaire die "Blumen des Bösen", Heine das "Buch der Lieder", Heinrich Hoffmann den "Struwwelpeter" und Eichendorff den "Taugenichts".

Reisen hat Carl Spitzweg in reicher Zahl unternommen: Frankreich, Italien, Österreich - er sah Paris und Venedig, Wien, Berlin, Leipzig und Dresden. Lange hielt er sich im Ausland auf. Als in seiner Heimatstadt München 1875 zum zweiten Mal eine verheerenden Cholera grassierte, floh er sogar für fast ein Jahr nach Tirol.
Daß neben der gesellschaftlich manifestierten Spätromantik die zarte Liebe, das Werben um sie eine ganz große Rolle in Spitzwegs Œuvre spielt, mag an der großen Sehnsucht liegen, die sich dem "ewigen Hochzeiter" selbst nicht erfüllte. Weder in der Liebe zu Clara Lechner noch zu seiner Kusine, der er Gedichte und herzzerreißende Briefe widmete, fand Spitzweg das Glück, das er so gerne liebevoll ausmalte. So ist denn der alte Mann, der seufzend und gedrückt einen jungen Mädchen hinterherschaut, ein schon frühes Lieblingsmotiv des genialen Malers - als ahne er das eigene Schicksal. Als Carl Spitzweg am 23. September 1885 starb, war er einer seiner Figuren geworden, als sei er in die stille Welt seiner Leinwände eingetreten - ein trotz aller Freunde und künstlerischer Erfolge um sein Leben betrogener alter Hagestolz.

Mehr als 1.500 Bilder hat der Autodidakt Carl Spitzweg in seinem Leben gemalt und viele erfolgreich verkauft. Museen schätzen sich heute glücklich, den einen oder anderen Spitzweg zu haben. Apotheken (sic!) nennen sich nach ihm und geben ihren Kunden gerne Spitzweg-Kalender mit ins Jahr. Und bevor man eine der ungezählten Spitzweg-Postkarten versendet, schaut man jedes Mal wieder mit stillem und nicht nachlassendem Vergnügen die biedermeierlichen Szenen an, in denen sich eine scheinbar heile Welt präsentiert.