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 Europa als Chance und Idee  muß erlebbarer werden Von Ulli Tückmantel Nimmt  man das gesamte hysterische Ausmaß des gestrigen Nachrichten-Aufkommens  zum „Brexit“ als Maßstab, dann sollte man meinen, bereits morgen früh  werde der Euro-Tunnel in Calais zugemauert. Während Frankreich darüber  diskutierte, wie man die britischen Armutsbootsflüchtlinge auf dem  Ärmelkanal am besten abwehre, und ob man den englischen Vettern  vielleicht so eine Art „privilegierte Partnerschaft“ wie Angela Merkel  einst den Türken anbieten sollte (zur Strafe für den ganzen Ärger  natürlich ohne Visa-Freiheit, versteht sich). Nun wird  bekanntlich nichts davon eintreten, schon gar nicht schnell. Kurzfristig  hat das Referendum lediglich zwei Dinge bewirkt: Erstens, daß an den  Finanzmärkten und Börsen ein Milliardenvermögen vernichtet worden ist,  sowohl in Pfund, als auch in Euro. Und zweitens, daß David Cameron nicht  als der Premierminister in die Geschichte eingehen wird, der  Großbritannien aus der EU geführt hat. Das wird in acht Jahren der  Nachfolger von Boris Johnson oder sonst wer zu tun haben. David  Cameron wird als derjenige Regierungschef in die Geschichte eingehen,  der das Vereinigte Königreich zerstört und Schottland sowie Nordirland  an Europa verloren hat. Was  keinem äußeren Feind je gelungen wäre, hat Camerons konsequent  verschärfte innere Spaltung des Landes erreicht. Aber das ist das  Problem Englands. Raus ist raus. Es gehört nicht zu den vordringlichsten  Aufgaben Europas, sich nun um eine besonders schöne und schmerzlose  Scheidung zu sorgen. Boris Johnson oder wer auch immer die Konkursmasse  von Camerons gescheiterter Politik übernimmt, wird sicher eine Idee  haben, wie die britische Regierung die Entflechtung des nationalen  Rechts von 88 000 Seiten bindenden EU-Verordnungen bewerkstelligen und  durch eigene Regelungen ersetzen will. Dafür  haben die Briten nun zwei Jahre Zeit. Prima, wenn sie es schaffen. Ihr  Problem, falls nicht. Trotzdem hat Bundeskanzlerin Angela Merkel mit  ihrer Einschätzung völlig recht, daß die Zukunft Europas nun davon  abhängen wird, ob die 27 Mitgliedsstaaten willens und fähig sind, mit  Ruhe und Besonnenheit die richtigen statt einfacher Schlüsse zu ziehen.  Das darf jedoch nicht bedeuten, daß den Briten nun noch weitere  Zugeständnisse gemacht werden. Denn dann  wäre der „Brexit“ das Signal an alle Nationalisten, Spalter und  Rechtspopulisten von der deutschen AfD über den französischen Front  National bis zu den polnischen National-Katholiken, daß es sich durchaus  lohnt, bei der Klientel der Ängstlichen und Abgehängten mit der  Forderung nach weiteren Anti-EU-Referenden auf Stimmenfang zu gehen. Am  gefährdetsten in dieser Hinsicht sind derzeit wahrscheinlich die  Niederlande, wo der Rechtspopulist Geert Wilders mit seinen gestrigen  Parolen in den Umfragen stabil bei 30 Prozent liegt. Dem dauergrinsenden  Ministerpräsidenten Mark Rutte fiel gestern nicht mehr ein, als vor  Panik zu warnen und die Zusammenarbeit in Europa für die Niederlande als  lebenswichtig zu beschwören. Der gleiche Mark Rutte, der sich 2017  einer Wahl stellen muß, hatte im April die Niederländer aber über das  Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine abstimmen lassen. 60  Prozent der Niederländer lehnten ab, umgesetzt wird es wohl dennoch.  Rutte ist wie Cameron einer der Poster-Boys des mutwillig erzeugten  EU-Verdrusses in Mitgliedsstaaten, die zu den Gewinnern der europäischen  Einigung gehören – aber ständig das Gegenteil behaupten. Daß es in  Großbritannien vor allem die Alten und Ärmeren waren, die für den  „Brexit“ gestimmt haben, ist keine Überraschung. Die Stimmungsmache  gegen die EU diente als Ventil der Sehnsucht nach einem „Früher“, in dem  angeblich alles besser war. Das war es nicht, ganz im Gegenteil. Der  Soziologe Berthold Vogel hat in einem Beitrag des Wirtschaftsmagazins  „Brand eins“ jüngst erklärt, warum es für den gesellschaftlichen  Zusammenhalt auf die Mittelschicht ankommt: „Es ist typisch für Menschen  aus der Mittelschicht, sehr viel über die Zukunft nachzudenken. Die  Oberschicht lebt von ihrer Vergangenheit, Ressourcen sind reichlich  vorhanden. In der Unterschicht lebt man eher in der Gegenwart, man  versucht, von Tag zu Tag über die Runden zu kommen. In der Mitte hat man  etwas zu verlieren.“ Deshalb  kommt es darauf an, daß die EU jetzt nicht über Reformen zur  Ruhigstellung ihrer Feinde vom rechten Rand und weitere Extrawürste und  falsche Kompromisse nachdenkt, sondern den Verunsicherten in der Mitte  der Gesellschaften klar macht, was sie zu verlieren haben – und vor  allem, was sie gewinnen können. Europa als Chance und Idee muß  erlebbarer werden. Seine Erfolge dürfen sich nicht auf  Glühbirnen-Verbote und den Zwang zu Schock-Fotos auf der  Zigarettenschachtel beschränken. Europa muß wieder das Versprechen auf  die Zukunft sein. Und England? Gute Nacht. Viel Glück. Der Kommentar erschien am 25. Juni 2016 in der Westdeutschen Zeitung.  Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors. | 


