Ermordet, aus Herz und Kopf vertrieben: Schildkröte schnappt zu
7. Oktober 1931: eine Flut von Glückwünschen aus ganz Europa strömt dem Schriftsteller Georg Hermann zum 60. Geburtstag ins Haus. Die Zeitungen würdigen ihn als jüdischen Fontane; mancher Kritiker stellt ihn höher als Thomas Mann. Sein beliebtester Roman – ‘Jettchen Geberts Geschichte’ – hat weit über hundert Auflagen erreicht und ist noch immer ständig vergriffen. Hermann zählt zu Deutschlands populärsten, ja geliebtesten Schriftstellern. Doch in Jubel und Ehrungen mischt sich ein böser, drohender Ton: auch der Völkische Beobachter hat einen Geburtstagsartikel vorbereitet, eine geifernde Hetztirade gegen den Schriftsteller und seinesgleichen. Denn Hermann denkt linksliberal, er ist Jude, er ist überzeugter Antimilitarist. "Eines schönen Tages wird die Schildkröte schon zuschnappen," prophezeit das Nazi-Blatt. Mit dieser Art von Intellektuellen wird man aufzuräumen wissen. Ein Jahr später wird die Drohung direkter, persönlicher: die Kehle wird man ihm durchschneiden, kündigen die Heidelberger Nationalsozialisten an. Hermann hat jahrelang am Neckar gewohnt und ist erst kürzlich in seiner Heimatstadt Berlin zurückgekehrt; der Haß ist ihm gefolgt. Die Welt, in die er bei seiner Geburt als Georg Borchardt am 7. Oktober 1871 hinein geriet, war die des neu gegründeten deutschen Kaiserreichs. Eine Zeit des Umbruchs mit der Möglichkeit zu rasantem geschäftlichem Aufstieg, raschem Gewinn. Eine Zeit des schnellen Wachstums, wo mancher in den Strudel zu gewagter Spekulationen geriet und plötzlich vor einem Scherbenhaufen stand. Georgs Vater war unter den Opfern dieser Gründerzeit, einer von denen, für die der Boom direkt in den Bankrott führte. "Wir sind plötzlich arm," erinnert Georg sich später und benennt die Fassadenkultur jener Jahre: "So war unser Leben: ein paar Säulen und Schmuckstücke, die voraussetzungslos in der Luft hingen und eine Lebenssicherheit markierten, die auf nichts mehr begründet war." Der kaum sechsjährige Junge mußte zusehen, wie der Vater in Schuldhaft genommen, wie die Möbel gepfändet wurden. Dem finanziellen Zusammenbruch folgte bald auch der körperliche; der Vater erlitt einen Schlaganfall. Er hat sich nie wieder erholt und starb, als Georg 18 Jahre war. Geprägt von diesem Scheitern versagte Georg auf der Schule, versagte als Lehrling in einem Krawattengeschäft, brach während der Militärzeit mit Lungenentzündung zusammen und wurde vorzeitig entlassen. Seine fünf älteren Geschwister hatten Erfolg, machten Karriere. Einer der Brüder, Archäologe, grub als Expeditionsleiter bei Tell-el-Amarna die Nofretete aus. Georg dagegen war arbeitslos. "Hockte stellungslos bei der Mutter herum." Konnte nicht einmal fehlerfrei, kaum leserlich schreiben. "Der letzte Grund des Schreibens ist ein Abreagieren von Schmerzempfindungen, vielleicht sogar ein Ableiten von Selbstmordgedanken bei mir gewesen," bekennt er später. Und mit seinem ersten Roman beschwört er den prägenden Kummer seiner Kinderzeit: "Spielkinder", 1897 erschienen und voll autobiographischer Züge, beschreibt "das harte Leben und bittere Sterben der hoffnungslos Unterliegenden." Das Leben und Sterben seines Vaters. Das ist fortan sein Thema, und von jetzt an schreibt er unter dem Vornamen des Vaters: Hermann. Es gelingt ihm, als Kunstkritiker bei den Ullsteinblättern Fuß zu fassen; er veröffentlicht mehrere Bücher, eines über seinen Freund, den Maler Max Liebermann. Von den ersten Honoraren beginnt er, nach und nach die alten Möbel aus der elterlichen Wohnung zurück zu kaufen. Biedermeiermöbel, auf denen noch die abgekratzten Siegel der Pfändung sichtbar sind. Und während er Stück für Stück das Ambiente um sich rekonstruiert, in dem schon seine Großeltern gelebt haben, trägt er gleichzeitig die Bausteine zu dem Roman zusammen, der ihn berühmt machen soll. Länger als ein Jahr beschäftigt er sich mit der Biedermeierzeit, sammelt Kunstgegenstände und Kuriositäten, geht über jüdische Friedhöfe, entziffert die Inschriften auf alten Grabsteinen. 1906 erscheint "Jettchen Geberts Geschichte". Man vergleicht den Roman mit den 1901 herausgekommenen ‚Buddenbrooks’ – aber "Jettchen" wird mehr geliebt. Es wird in viele Sprachen übersetzt und als Operette vertont (‚Wenn der weiße Flieder wieder blüht’), wird verfilmt, von Hermann selbst dramatisiert und ist auf Jahre das von deutschen Theatern meistgespielte Stück. Selbst Krieg und Revolution halten den Siegeszug von "Jettchen Gebert" nicht auf: es ist zum Lieblingsbuch einer Generation geworden. Das liegt nicht allein an der nostalgischen Liebe der Leserschaft zum biedermeierlichen Genrebild. Nachdem Hermann 1908 mit "Henriette Jacoby" seinem Jettchen die von vornherein geplante
Güte, zeigt Hermann, kann zur tödlichen Falle werden. Vor allem für eine Frau, die zur Opferbereitschaft oft schon erzogen wird. Er selbst nutzt diese Eigenschaft später konsequent aus: eine seiner drei Töchter aus erster Ehe führt ihm nach dem Tod seiner zweiten Frau den Haushalt. Sie muß nicht nur die kleine Stiefschwester erziehen, sondern auch den Reigen wechselnder Freundinnen akzeptieren, die der charmante Vater ins Haus holt. Doch nach einigen Jahren löst sich das Mädchen, geht nach Dänemark, baut ein eigenes Leben auf. Kein Jettchen-Schicksal also im Hause von Jettchen Geberts geistigem Vater, kein Opfer zwischen getupften Mullgardinen und zierlichen Biedermeier-Stühlen. Der von ihm selbst entfesselten Biedermeier-Schwärmerei des Lesepublikums hat Hermann inzwischen längst den Rücken gekehrt. Anstatt auf der Erfolgswelle weiter zu produzieren, wendet er sich anderen Figuren, anderen Zeiten zu. Nur der Blickwinkel bleibt derselbe: Über zwanzig Romane sind es geworden, bis er im Exil nach und nach verstummt. Im Gegensatz zu anderen Emigranten kann er noch fünf Bücher veröffentlichen, doch die Auflagen sind winzig, der Verdienst gleich Null. Nach 1936 geht nichts mehr. 1943 wird der zweiundsiebzigjährige, schwer herz- und zuckerkranke Mann aus dem Ghetto in Amsterdam von den Nationalsozialisten ins Durchgangslager Westerbork gebracht und im November auf den Weg nach Auschwitz geschickt. Der Transport mit 995 Menschen trifft am 17. November in Birkenau ein; 531 Personen werden kurz nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet. Unter ihnen Georg Hermann. Und doch hat dieser Autor auch und gerade heute Wesentliches zu sagen. Aufregend die Romane, in denen er das Berlin von Gründerzeit und Jahrhundertwende beschwört, das explosive Wachstum zur Millionenstadt. (‚Spielkinder’, ‚Kubinke’ und ‚Rosenemil’). Da zeichnet er eine vor Unternehmungsgeist berstende Stadt, da ist man beim Erstbezug der begehrten Altbauten von heute mit dabei. Und denkt man an die Baukräne über der Stadt nach der Wende, so erscheint Hermanns altes Berlin plötzlich unheimlich vertraut: Eine Stadt in einer Zeit des Umbruchs mit allen Möglichkeiten zu rasantem Aufstieg, raschem Gewinn. Da berührt die Metropole von damals sich mit der modernen Großstadt, auch der von heute, und nicht nur mit der Großstadt Berlin. Und wieder lenkt Georg Hermann den Blick auf die Opfer einer solchen Zeit, auf all jene, die nicht wendig, nicht dynamisch, nicht rücksichtslos genug sind, um sich nach oben tragen zu lassen. Deren Existenz mit einem Schlag ein Scherbenhaufen ist. Deren Leben plötzlich in der Luft hängt, am Rand der Gesellschaft, ohne Arbeit, ohne Freunde, vertrieben nicht nur aus der Wohnung, sondern aus allen Lebensgewohnheiten. © Dorothea Renckhoff - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008 |