Was die Fliege zuletzt sah

Sinnfragen

von Lars von der Gönna

© Heiko Sakurai
Was die Fliege zuletzt sah
 
In mein Büro hat sich eine Fliege verirrt. Denken Sie nur: eine Fliege. Im hohen November. Längst hatte ich ihresgleichen aus den Augen verloren, weggebrummt an der Seite eines durch und durch unerquicklichen Zeitraums, den wir ziemlich zu Unrecht Sommer nannten.
Ob sie die Letzte ihrer Art ist? Es ist kalt draußen (Fliegen kennen ja nicht Handschuh noch Mütze, sie wärmen sich an Misthaufen, aber das Ruhrgebiet ist arm daran). Ich mag einen Augenblick gelüftet haben, nun ist sie drin.
Man muß kein Prophet sein, um zu wissen, daß es mit der kleinen Fliege zu Ende geht. Sie krabbelt sehr langsam. Sie wirkt phlegmatisch. Sie tut mir leid. Ich biete ihr mangels eines Hundehaufens mein Butterbrot an. Sie weicht ängstlich Richtung Jalousie. Ob sie schlechte Erfahrungen mit meinesgleichen gemacht hat? Eine Fliege. Es sind ihre letzten Stunden auf der Welt.
Und was sieht sie? Mich. Eine schreckliche Vorstellung: Ich wäre Fliege an des Lebens Neige und sehe bloß LvG. Das ist der Fliege letzter Eindruck: ein unordentlicher Schreibtisch, eine alte Wanduhr, ein abgelaufener Joghurt, ein dicker Mann, der nicht ihre Sprache spricht. Schlimm. Vielleicht suchte sie nach Verwandten. Manche starben im Handgemenge sommerlicher Freibäder, andere in Cola-Pfützen oder an der rohen Wucht einer Sandalette. Jetzt fliegt sie kaum noch, dreht sich autistisch. Ob ihr Leben, wie es von uns Menschen heißt, jetzt an ihr vorüberzieht? Hat sie einen Vornamen? Vielleicht Jürgen.
Die Fliege und ich. Abendstunden im Spätherbst können sehr traurig sein.
 
 

© Lars von der Gönna - Aus dem Buch „Der Spott der kleinen Dinge“
mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Henselowsky Boschmann und der WAZ.