Das harte Leben der Kinder von Spielzeugmachern im Erzgebirge

von Jürgen Koller

Foto © Jürgen Koller
Das harte Leben
der Kinder von Spielzeugmachern
im Erzgebirge
 
Niemand hungerte –
aber für Kleidung und Schuhwerk reichte es nicht
 
Aus eigener Familiengeschichte möchte ich den Bericht über das Erzgebirge in Graf Stenbock-Fermors Buch „Deutschland von unten“ aus dem Jahre 1931, das ich hier vor einigen Wochen vorstellen konnte, ergänzen. Wo der baltische Graf bei seinen Reisen durch die Armutsregionen der deutschen Provinz auch die Dörfer der Spielzeug-Herstellung rund um Seiffen im Erzgebirge bereiste, kann ich auf die authentischen Lebenserfahrungen einer dort Anfang des 20. Jahrhunderts aufgewachsenen Verwandten zurückgreifen. Der Graf hatte darauf verwiesen, daß die Wohnungsnot im Erzgebirge bei den Spielzeugmachern und Holzdrechslern nicht so eklatant war wie beispielsweise im Eulengebirge, im schlesischen Waldenburg, im Thüringer Wald oder im Frankenland. Auch seien die Häuser in einem besseren Zustand gewesen, zumal die Drechsler auf funktionierende Wasserräder zum Antrieb der Drechselbänke angewiesen waren. Die Armut der Menschen war aber gleichfalls augenscheinlich, allerdings bei etwas besserer Volksgesundheit.
 
Meine Verwandte, Elsbeth K., deren früher Lebensweg hier knapp skizziert werden soll, war Jahrgang 1904 und stammte aus einer Familie, die das Drechsler-Handwerk betrieb. Sie war das Jüngste von sechs Kindern. Das Häuschen beherbergte die Eltern, den Großvater sowie die sechs Kinder. Eine separate Werkstatt verfügte über ein Wasserrad, dessen Energie über eine Transmissionswelle und Treibriemen zu den Drechselbänken geführt wurde. Zum Haus gehörte weiter ein kleiner Bachlauf, ein bescheidener Garten und ein Stück Wald, der Holz für die Drechselei und winters für den Ofen lieferte. Es wurden Ziegen sowie etwas Geflügel gehalten und Gemüse im Garten angebaut. Die äußeren Lebensumstände dieser Handwerker-Familie aus dem Dorf F. bei der Kleinstadt Sayda konnten nach damaligen Maßstäben zufriedenstellend genannt werden – niemand mußte hungern. An Kleidung aber mußte extrem gespart werden, Schuhe trugen die Kinder im Sommer keine, die Jüngste hatte die Kleider der älteren Geschwister aufzutragen. Ein eigenes Bett hatte von den Kindern nur der große Sohn, der neben Vater und Großvater in das Handwerk hineinwuchs. Da die Winter im oberen Erzgebirge streng und lang waren -„Sachsens Sibirien“ - ruhte oftmals von Mitte Dezember bis in den März hinein das Drechslergewerbe wegen fehlendem Bachwasser, dann mußten Vater, Sohn und Großvater zum Schnitzmesser greifen. Nur das Drechseln und Schnitzen von Spielzeug und Weihnachtsfiguren war an Verleger gebunden, das Hauptgewerbe aber waren gedrechselte Holzknöpfe, auf gut Erzgebirgisch: „Heft'l“, für Schubladen und Schränke der heimischen Möbelindustrie. Die Heft'l wurden direkt an die Fabriken geliefert. Trotzdem waren die Erlöse äußerst gering, da die Abnehmer die Preise auf ein Minimum drückten.


Winter im Erzgebirge
 
So mußten die typischen Weihnachtsfiguren, etwa Engel, Bergleute, Nußknacker oder Räucher-Männer mit der gesamten Familie ergänzend produziert werden. Der kleine Engel auf der Abbildung oben links wurde von der 4-jährigen (!) Elsbeth bemalt. Sie erhielt vom Vater für jede bemalte Engel-Figur einen Pfennig – wahrlich ein „Hungerlohn“, aber das Mädchen und seine schulpflichtigen Geschwister sahen das nicht als Fronarbeit an, denn an den eisigen Wintertagen, ohne wetterfestes Schuhwerk, war bei Frost und Schnee sowieso nicht an den Besuch der Schule zu denken, auch wurden die Straßen mit Pferde-Schneepflügen nur ab und an geräumt. Aber letztenendes war es doch über viele Wochenstunden hinweg harte Kinderarbeit, die auch im Königreich Sachsen verboten war. Von der heute so oft gerühmten Erzgebirgsidylle mit Spinnrad, Zither und Weihnachtspyramide war vor dem 1. Weltkrieg in den dörflichen Familien oftmals nicht viel zu spüren. Einen 'Luxus' hatte sich die Familie der kleinen Elsbeth aber gegönnt. Um die Jahrhundertwende erwarb sie ein Symphonion (*) - nach der Musik auf den Lochplatten wurde im Sommer vor dem Haus getanzt und im Winter beim Figurenmachen gesungen.


Seiffen, Spielzeugmacher-Stube um 1900 - © Bild und Heimat (Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis)

Kinder aus diesem Handwerker-Milieu hatten kaum eine Bildungschance – alle sechs Geschwister konnten keinen Beruf erlernen. Es war schlicht und ergreifend kein Geld dafür da. Ein Leben lang hat die Verwandte, die über vielfältige intellektuelle Fähigkeiten und über eine schöne lateinische Handschrift verfügte, darunter gelitten, wenn bei Behörden nach dem Beruf gefragt wurde und sie mit „ohne Beruf“ antworten mußte...
Aber mit Fleiß, Leistungswillen und erzgebirgischer Sparsamkeit, gepaart mit Mut zum Risiko, gelang es dem späteren Ehemann von Elsbeth K., einem gelernten Bankkaufmann, dessen Vater Schneidermeister in einem Nachbardorf war, zusammen mit seiner Frau noch in den 30er Jahren im sächsischen Limbach eine „Fabrik für feine Wirkwaren“ aufzubauen. Es kostete viel Arbeit und Mühe, dieses kleine Unternehmen über die Wirren des 2. Weltkriegs zu retten und später durch alle Widrigkeiten sozialistischer Planwirtschaft bis zu beider Rente im Jahre 1965 als Privatunternehmen zu führen.
 
(*) siehe auch: Musenblätter / Musik fürs traute Heim – eine Betrachtung über die Geschichte der Plattenspieldose, Jürgen Koller, 06.12.07
 

 © 2016 Jürgen Koller
Redaktion: Frank Becker