Geschwister: Poesie und Märchen (1)

Eine Analyse

von Heinz Rölleke

Foto © Frank Becker
Geschwister: Poesie und Märchen (1)
 
von
Heinz Rölleke
 
Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, bekannt unter seinem Dichternamen Novalis, war der führende Kopf und der begabteste Dichter unter den Frühromantikern. Zum Schaden der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte ist er schon 29jährig im Jahr 1801 gestorben.
 
Es gab und gibt bislang niemanden, der mit so hoher Einschätzung vom Märchen gesprochen hat, wie er:
 
            [biographisch] „Im Märchen glaube ich am besten meine Gemütsstimmung ausdrücken zu können.“
            [poetologisch] „Das Märchen ist Kanon der Poesie – alles Poetische muß märchenhaft sein.“
            „Alle Romane, wo wahre Liebe vorkommt, sind Märchen – magische Begebenheiten“ (also nicht „bloße Märchen“, sondern der Realität mindestens gleichwertige Magie; die Liebe ist für Novalis etwas Magisches).
            „In einem echten Märchen muß alles wunderbar, geheimnisvoll und unzusammenhängend sein – alles belebt. Die ganze Natur muß auf eine wunderbare Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein.“
            [philosophisch] „Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft.“
            „Märchen, Zeit der Anarchie, der Gesetzlosigkeit, der Freiheit, der Naturzustand der Natur. Diese Zeit vor der Welt liefert die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt.“
            „Märchen sind das einzige Blatt aus dem Buch der Schöpfung, das die Sintflut überdauert hat.“
 
Novalis bestimmt in seiner romantisch-triadischen Denkstruktur die Rolle des Märchens in der Gegenwart einerseits als Zeugnis des ursprünglichen, vorgeschichtlichen Chaos (in Gestalt des alten, anonymen Volksmärchens) und andererseits als Prophetie des künftigen geordneten
Chaos (in Gestalt des modernen, von einem Poeten geschaffenen Kunstmärchens).
 
Bereits elf Jahre vor der Märchensammlung der Brüder Grimm hat sich Novalis mit dem Volksmärchen befaßt und musterhafte Kunstmärchen verfaßt. Seinen großen, fragmentarisch verbliebenen Roman „Heinrich von Ofterdingen“ wollte er abschließend in einem Märchen aufgehen lassen – als Apotheose und als höchst vollendete Blüte am Baum der Poesie. Darin folgte er der zyklischen Struktur von Goethes “Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“: Vier prosaische Erzählungen gipfeln sich zu einer fünften auf, die so lakonisch wie apodiktisch „Das Märchen“ betitelt ist: Es ist die Blüte der Urpflanze, die Goethe als aus vier Blättern hervorgegangen verstand. Und noch 50 Jahr später folgt Gottfried Keller den Vorgaben Goethes und des Novalis: Seine fünf Geschichten im Zyklus „Die Leute von Seldwyla“ sind einleitend vier Novellen und abschließend das Märchen „Spiegel das Kätzchen“.
 
Bis dahin war es allerdings ein weiter Weg, auf dem man nicht ohne Wegsperren und Umwege vorangekommen war. Die noch zu Zeiten des Novalis vorherrschende Geistesrichtung war die Aufklärung, der alles Irrationale, Abergläubische und scheinbar reaktionär dem vielgeschmähten finsteren Mittelalter Zugewandte ein Greuel war, dem man entgegentrat und das man - wo man die Macht hatte - zu verbieten und auszurotten versuchte. Natürlich läßt sich das auf Erzählungen und eben auch auf Märchen aller Art erpichte Volk nicht so einfach einen fremden Geschmack und eine neue Weltsicht aufdrängen; so war die repressive Entsublimierung in Frankreich kurz zuvor in ihr glattes Gegenteil umgeschlagen: Nach dem Verbot der Märchen entstanden so viele Märchensammlungen und vor allem neue Feenmärchen wie nie zuvor. Man wurde der Flut nicht mehr Herr und stricht die Segel, sprach aber verächtlich von einer verheerenden Feenwut, die in das Volk gefahren sei. Im deutschen Sprachraum waren es ausgerechnet die neben Tieck und Novalis führenden Frühromantiker August Wilhelm und Friedrich Schlegel, die sich heftig gegen die Aufwertung der Volksmärchen durch Novalis und schließlich die Brüder Grimm wehrten. „Wenn eine Amme ihrem Schutzbefohlenen ein Kindermärchen vorlallt und es damit in Schlaf bringt, so mag es damit sein Genüge habe. Wenn man aber im Namen der uralten Sage für allen Trödelkram der Nation Hochachtung verlangt, dann heißt das wirklich, intelligenten Menschen zu viel zuzumuten.“ Das ist nur eines der vernichtenden Urteile gegen die Bemühungen der seinerzeit noch jungen und unarrivierten Brüder Grimm.
 
Nachdem sich langsam, aber desto triumphaler der Siegeszug der Märchen in Bewegung und gegen alle Kritik durchgesetzt hatte, gab es seit der zweiten Generation innerhalb der ja von den Brüdern Grimm begründeten Germanistik einen erheblichen Rückschlag, von dem sich die seriöse Beschäftigung mit Märchen als einer der Poesie gleichrangigen literarischen Gattung erst sehr spät und zögerlich erholte. Die frühen Germanisten und noch ihre Nachfolger bis etwa 1970 werteten nach den hochgemuten Lobpreisungen des Märchens im Besonderen und der Volksliteratur im Allgemeinen durch Novalis, die Brüder Grimm und viele andere, sie werteten diese anonymen, meist altübelieferten wunderbaren Schöpfungen von hohem literarischen, volkskundlichen und historischem Wert schlichtweg als „abgesunkenes Kulturgut“, mit dem sich die mit Walther von der Vogelweide, Goethe, Schiller und Hölderlin beschäftigte Germanistik nicht zu befassen habe, das heißt: Es fanden in diesen Jahrzehnten keine Vorlesungen über Märchen und dergleichen an den Universitäten statt, und damit waren sie auch in der allgemeinen Lehrerausbildung kein Thema.
 
Erst im Gegenschlag gegen die fast gewalttätige Polemik der 68er gegen die Märchen konsolidierte sich eine zunächst kleine Schar von Forschenden und Lehrenden an den Universitäten und damit auch eine schnell wachsende Schar interessierter Studenten zum Schutz und zu einer Neubewertung der Märchen. Die junge Universität Wuppertal hatte da eine weltweit beachtete Vorreiterrolle; aber die Vorstellung, daß man sich im seriösen Universitätsbetrieb ernsthaft mit so einem Kinderkram wie Märchen befassen könnte, stieß noch lange auf Häme und ungläubiges Staunen.
 
Die Kämpfe sind weithin ausgestanden, und das Märchen ist vor allem bei Erwachsenen so populär und hochgeschätzt wie nie zuvor. Gut erzählte Märchen sind Poesie – daran gibt es nun keinen Zweifel mehr, und der Poesie selbst schadet es überhaupt nicht, wenn sie märchenhaften Strukturen folgt und die unsterblichen Märchenmotive der Weltliteratur immer aufs Neue in ihre Schöpfungen übernimmt.
 

© 2016 Heinz Rölleke
Lesen Sie am kommenden Freitag hier den zweiten Teil  dieser spannenden Analyse