Geschwister: Poesie und Märchen (2)

Eine Analyse

von Heinz Rölleke

Foto © Frank Becker
Geschwister: Poesie und Märchen (2)
 
von
Heinz Rölleke
 
Nach der epochemachenden Märchenveröffentlichung der Brüder Grimm drängen sich die deutschsprachigen Dichter geradezu um diesen unerschöpflichen poetischen Brunnen, um aus ihm immer wieder alles Mögliche zu schöpfen. Es seien hier nur wenige genannt: Goethe, Arnim, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, Droste-Hülshoff, Richard Wagner, Gottfried Keller, Theodor Storm, Theodor Fontane, Wilhelm Raabe, Wilhelm Busch, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse, Thomas Mann, Bert Brecht, Michael Ende. Viele von ihnen haben „Grimms Märchen“ unter die für ihre poetische Entwicklung bedeutsamsten Bücher gerechnet.
 
Zu diesen erlauchten Namen gehört natürlich Else Lasker-Schüler, die sich ein Leben in einer Märchenwelt einrichtete, von der sie selbst als Märchenfigur ein Stück war. Davon zeugen ihre Briefe, ihre autobiographischen Skizzen, aber auch ihre Zeichnungen und Bilder allenthalben ein Lebenlang. Für sie waren Märchen und Poesie mehr als bloße Geschwister: Sie bildeten eine gänzlich untrennbare Einheit, in der sie sogar ihr reales Leben einbringen wollte.
 
Dazu nur wenige Belege aus ihren Schriften.
 
Im Brief an Jethro Bithell von 1910 vergleicht sie diesen etwas zögerlich mit Heines Balladenfigur „Wilhelm von Kevlaar“ und mit dem berühmten mittelalterlichen Sagenheld „Tristan“; sich selbst aber identifziert sie ohne weiteres mit Grimms „Aschenputtel“: „es geht mir so wie Aschenbrödel, der nur ihr eigener Schuh paßt“. Ihren Wuppertaler Dichterkollegen Paul Zech nennt sie in einem Dialektgedicht einen Enkel des „verwunschenen Bäuerleins / Aus Grimm sinne Märchen“.
 
Das Wort 'Märchen' begegnet (ohne die zahlreichen Anspielungen mitzurechnen) ein Dutzendmal wörtlich in ihren Gedichten. Von einem der frühesten („Kismet“) bis hin zu den letzten („Ich glaube, wir sind alle füreinand' gestorben“) - und die Formulierungen zeigen, wie das Märchen sie durchs Leben begleitet hat: Von der Vorstellung Märchen seien das ungetrübte dem Menschen immer beschiedene „Glück“ bis hin zur Resignation „Ich habe mein Märchenland - es war einmal - verloren“ – und diese Resignation nachdem sie im Vers zuvor ihr Lebensschicksal mit dem des Grimm'schen „Dornröschen“ in Parallele setzen wollte: Bei meiner Geburt “standen Feen vor den Gartentoren“. Märchen und Poesie, aber auch Märchen und Liebe begegnen in ihrem lyrischen Werk immer wieder als identisch zum Beispiel in der wunderbaren Liebeserklärung: „Mit lauter Märchen umblühe ich dich“.
 
Selbst im düsteren Schauspiel „Die Wupper“ ist das Märchen, wenn auch in seinen eher dunklen Facetten, allgegenwärtig. So gänzlich dunkel wie in Büchners nihilistischen „Woyzeck“-Märchen sind diese Facetten allerdings nicht. Lasker-Schüler nannte das Stück mit Bedacht eine „böse Arbeitermär, deren Wirklichkeit phantastisch ergreift“. Reale Alltagswirklichkeit und blühende Märchenphantasie: Hier entwickelt sich eines aus dem andern, so daß man mit Recht von einem neuen Mythos gesprochen hat, den dieses bedeutende Drama schuf. Moderne Mythen können nicht ohne märchenhafte Züge entstehen, das wissen wir seit Brentanos Erfindung der Loreley. Und so finden wir auch in der „Wupper“ etwa die märchenhafte Dreizahl als geradezu beherrschend in allen möglichen Verbindungen. Auf die märchen- und sagenhaften Züge der drei zwischen Realität und Phantasmen changierenden Stadtstreicher braucht man nur hinzuweisen.
 
Lasker-Schüler hat es selbst erkannt und formuliert: Ein Theaterstück, sagt sie, muß immer eine Welt sein, die ein Dichter nicht bewusst erschaffen kann, indem er eine Welt in seinem Drama z i m m e r t, denn auf diese Weise erschafft er sie nicht; denn bloße „Geschicklichkeit ist keine Zauberei, und zaubern heißt des Dichters Handwerk“.
 
Der Zauber des anonymen Märchens und der Zauber des aus diesem Geist schaffenden Poeten – sind sie von Haus aus Geschwister? Ja und Nein. Die Anfänge beider Geistesbeschäftigungen liegen in jeder Hinsicht im Dunkel. Also muß man sich fragen, waren erst die Homerischen Dichtungen da, aus denen sich einige märchenhafte Episoden selbständig machten und seitdem jahrhundertelang mündlich weitergegeben wurden, wobei aus dem differenzierten Halbgott Herakles ein etwas tumber Starker Hans wurde? Oder war doch das Märchen v o r den biblischen Geschichten vom Paradies, von der Sintflut von Jacobs Kampf mit dem Engel, mit seinen Erzählungen vom Starken Hans da, aus denen die Schreiber der Bibel und Homer ihre Figuren und Begebenheiten hinauf stilisierten? Man weiß es nicht; so wenig wie man weiß, ob zuerst das Huhn oder das Ei da war.
 
Als die germanischen Sprachen vor 15hundert Jahren in die Literatur eintraten, bezeichneten sie ihre Stoffe ausschließlich als „Mären“ oder „Sagen“ - das heißt, sie bezogen sich auf ihren Hörern schon bekannte mündlich überlieferte Geschichten („uns ist in alten maeren, wunders vil geseit“; Beginn des „Nibelungenlieds“ aus dem jahr 1204). So basieren die hochartifiziellen „Tristan“-Dichtungen zunächst auf keltischen Feen-Märchen. Die mittelalterlichen Dichtungen im Ganzen oder einige Episoden im Besonderen gerieten dann wieder in die mündliche Tradition. Und hier bemächtigt sich etwa die Gegenreformation dieser Tradition und schreibt das allbekannte Märchen für die Hörer unmerklich um: Aus dem Feen-Märchen und den Tristan-Dichtungen ist im 16. Jahrhundert durch die Jesuiten ein Stück propaganda fidei für die Wiedereinführung des Beichtsakraments geworden, und so ist es als berühmtes, von allen Dichtern hochgeschätztes Märchen der Grimm'schen Sammlung unter dem Titel „Die Gänsemagd“ in aller Welt berühmt geblieben.
 
Ob das Märchen die Mutter der Posie oder die Poesie die Mutter des Märchens ist, läßt sich nicht ergründen; daß aber Märchen und Poesie seit dem Mittelalter einander immer ähnlicher werdende und einander wechselseitig befruchtende Geschwister sind - fast könnte man von eineiigen Zwillingen sprechen -, das steht außer Zweifel, und darüber kann man sich auch hier und jetzt nur freuen.
 

© 2016 Heinz Rölleke