Beckfelds Briefe

An Matthias Behr

von Hermann Beckfeld

Hermann Beckfeld - Foto © Dieter Menne
Lieber Matthias Behr,

wenn die Olympischen Spiele beginnen, werden Sie sich sicherlich die Fecht-Wettkämpfe nicht entgehen lassen. Schließlich wurden Sie 1976 selbst Olympiasieger mit der Mannschaft, sicherten sich bei Wettbewerben unzählige Titel, u. a. bei der WM 1977 und im Weltcup 1978. Doch das Leben tut Ihnen Unrecht. Für die meisten sind Sie nicht der Meister mit dem Florett: „Der Matthias Behr, der ist doch der …“
Ja, Sie sind der deutsche Fechter, der an jenem verhängnisvollen 19. Juli 1982 bei der Weltmeisterschaft in Rom seinen Gegner und Freund, den großen, von allen bewunderten Champion Wladimir Smirnow tötete. Ein Moment des Grauens: Sie beide starten einen gleichzeitigen Angriff, eine „Attacke Simultanée “. Ihre Klinge trifft Wladimir im oberen Brustbereich, bricht ab, schießt durch die Maske, bohrt sich in sein Auge. Tage später wird der Tod des russischen Sportlers bekanntgegeben. Ihre Vernunft, Ihr Verstand müßte Ihnen sagen, daß es ein tragischer Unfall war, daß es am Material lag; daß Sie unschuldig sind. Doch Ihr Herz, Ihre Gefühle wollen das nicht wahrhaben, sie rebellieren, quälen, schmerzen – und das wohl an jedem Tag in den vergangenen 34 Jahren.
Sie galten schon vor dem Drama als sensibel, nicht nur als Kämpfer auf der Planche, der die Attacken des Gegenübers frühzeitig erfühlt; sie waren und sind einer, der Probleme lieber alleine löst, den Probleme auffressen. Ihre erste Ehe zerbrach, die Beziehung zu Ihrem Ziehvater, dem erfolgsbesessenen Bundestrainer Emil Beck, ebenfalls. Sie haben ihn enttäuscht, er sprach von Verrat und mangelndem Teamgeist, als Sie ihm sagten: „Ich kann nicht mit nach Atlanta fahren.“ Ihre junge Familie, Ihre zweite Ehefrau, die in einem Notkaiserschnitt kurz zuvor Zwillinge zur Welt gebracht hatte, war Ihnen wichtiger als Olympia.
Vier gesunde Kinder, mit Zita Funkenhauser, die ebenfalls Fecht-Gold gewann, eine starke Frau an Ihrer Seite, glänzende Medaillen, große Siege, alles wurde verdrängt von der Tragödie, von Vorwürfen, wohl auch von Selbstmitleid, das noch nie ein guter Berater war. An einem Abend im März 2002 standen Sie auf einer Autobahnbrücke, mit einem Bein schon über dem Geländer. Sie sagen: „Ich wollte ins Nichts springen.“
Ein „Funken Restvernunft“, so nennen Sie es, hat Sie vom Freitod abgehalten.
Wird es Sie trösten, daß Sie vieles bewirkt haben? Nach der Tragödie wurde die Sicherheit verstärkt, mittlerweile sind die Klingen aus bruchsicherem Stahl, die Westen undurchdringbar, die Masken nicht mehr so porös wie früher. Ihr offener Umgang mit der Depression hat Mitmenschen ermutigt, gegen diese Krankheit, die man nicht sieht wie eine äußere Verletzung, anzugehen, sich von Ärzten helfen zu lassen. „Eine Depression mit sich allein auszumachen, ist ein fataler Fehler“, sagen Sie.

Lieber Matthias Behr,
wie tröstlich ist es, gerade in diesen Tagen, da wir miterleben müssen, daß die Welt und unser Glaube an Werte durchgerüttelt werden, Trost durch kleine, manchmal auch große Glücksmomente zu bekommen. Nach 34 Jahren bedrückender Funkstille hat Ihnen Emma, die Witwe von Wladimir, eine Mail geschickt. Sie schreibt: „Zuallerst: Ich habe Sie nie für schuldig gehalten. Diese schreckliche Situation ist tragisch für uns beide.“

Alles Gute für die Zukunft
Hermann Beckfeld
 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Ruhr Nachrichten.
„Beckfelds Briefe“ erscheinen jeden Samstag im Wochenendmagazin dieser Zeitung.