Beckfelds Briefe

An Marcel Reich-Ranicki

von Hermann Beckfeld

Hermann Beckfeld - Foto © Dieter Menne
Im September 2013 starb der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der uns gelehrt hat, über Bücher zu streiten. Dieser Brief erreichte ihn erst im Club der toten Dichter und Denker.
 
Lieber Marcel Reich-Ranicki,
 
am letzten Samstag, im Brief an den Schriftsteller Camron Wright, schrieb ich über unwiderruflich verpaßte Chancen, auf Menschen zuzugehen, bevor es zu spät ist. Schon zu Lebzeiten wollte ich Ihnen schreiben, doch ich schob es immer wieder auf. Dann durchkreuzte Ihr Tod meine Pläne, und ich machte mir Vorwürfe: Warum hatte ich so lange mit meinem Brief gewartet? Ihr Leben war so außergewöhnlich, so voller Schmerz und einzigartigem Verzeihen, daß es mir ein Bedürfnis ist, Versäumtes nachzuholen. Und sei es nur, damit die Erinnerung an Ihren streitbaren Geist, die kratzige, aufgebrachte Stimme, den erhobenen Zeigefinger und das unnachgiebige Plädoyer für gute Literatur uns noch einmal für wenige letzte Momente wachrüttelt. Und wer weiß, vielleicht hängt irgendwo im Himmel ein Briefkasten.
Dies soll keine Laudatio sein; darin haben sich Freunde und Feinde, von Ihnen geförderte und von Ihnen verrissene Autoren versucht, wobei ausgerechnet eines Ihrer Lieblingsopfer, die Nobelpreisträgerin der staubtrockenen Literatur, Elfriede Jelinek, Ihnen bescheinigte, daß Sie sogar „Vernichtungen“ so witzig formulierten, „daß selbst die zum Genuß werden“. Lassen wir es. Lobende, schmalzige, anbiedernde Ergüsse waren Ihnen eh so zuwider wie der Fernsehpreis, den Sie so herrlich polemisch polternd und mit gewohnt schauspielerischem Talent verdammten, „weil ich mit dem Blödsinn hier nichts zu tun haben will“. Ich habe nur wenige Nachrufe gelesen. Sie und ich und alle, die das Altern fürchterlich und schmerzhaft finden, wissen, daß gute Worte mit jedem Geburtstag und mit dem Tod sowieso weniger an der Wahrheit orientieren.
Ich habe rnir noch einmal Ihre Rede angehört, die Sie am 27. Januar 2012 im Bundestag gehalten haben. Sie, der greise, von Krankheiten gezeichnete Mann, der auf dem Weg zum Vortragstisch gestützt werden mußte, der uns mit brüchiger Stimme mitnimmt ins Warschauer Ghetto. Was Sie berichten, läßt uns schweigen, schaudern, schämen. Sie sind es, der den Stenografen des Massenmordes abgeben mußte. Sie diktierten am 22. Juli 1942 der polnischen Mitarbeiterin das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau fällt. Und wir wissen, daß in der Schlange vor den Zügen zu den Gaskammern in Treblinka auch Ihre Eltern standen. Es war in Berlin Ihr letzter großer Auftritt in einem Leben, das sich wie ein Jahrhundert-Roman liest. Mit einer unglaublichen Wende, als Sie und Ihre Tosia 1958 nach Deutschland zurückkehrten. Sie, der Geächtete, der Verfolgte, der Überlebende, kamen zurück, um uns Deutschen Ihre Leidenschaft für gute Literatur vorzuleben und dafür zu streiten, wie nur Sie streiten konnten. Mit so großer Leidenschaft und erlesenem Wissen, nicht selten übertrieben, rücksichtslos, verletzend, zuweilen ungerecht, aber auch pointiert, komödiantisch und einfühlsam. Und immer unterhaltsam. Dies forderten Sie auch für Bücher: „Literatur darf nicht nur unterhaltsam sein, sie muß es sogar.“
 
Lieber Marcel Reich-Ranicki,
danke! Sie haben uns gelehrt, zu streiten, Spaß am Lesen zu haben und nicht jedes Buch gut zu finden, das in den Bestsellerlisten steht. Ich bin ganz sicher: Im Club der toten Dichter und Denker sind Sie bald der Chef und in bester Gesellschaft. Und können Goethe, Schiller und all den anderen, die Sie vergöttert und verteufelt haben, Ihre Meinung sagen. Und wir, ja wir werden Sie vermissen. Aber Sie leben in jedem Buch weiter, das sie uns empfohlen haben.

Ihr
Hermann Beckfeld
(28.11.2013)
 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags Henselowsky Boschmann.
„Beckfelds Briefe“ erscheinen jeden Samstag im Wochenendmagazin der Ruhr Nachrichten.

Redaktion: Frank Becker