Auf ganzer Linie überzeugend

Rossinis „Elisabetta d’Inghilterra“ im Theater an der Wien

von Jochen Rüth

Alexandra Deshorties (Elisabetta) - Foto © Herwig Prammer

Theater an der Wien:
 
Elisabetta d’Inghilterra
 
Premiere: 17.03.2017
besuchte Vorstellung: 24.03.2017
 
Cover-Versionen sind nicht unbedingt eine Erfindung des Pop-Zeitalters. Schon vor mehr als zwei Jahrhunderten haben Opernkomponisten Motive und Themen ihrer erfolgreichsten Arien in späteren Werken überarbeitet. Spitzenreiter diesbezüglich ist sicher Gioachino Rossini. Einer der erfolgreichsten Komponisten der Belcanto-Ära hat bei sich selbst so oft abgeschrieben, daß Analysen darüber ganze Bücher füllen. Dabei beließ er es oft nicht beim Entleihen einzelner musikalischer Themen, sondern hat ganze Arien aus anderen Werken recycelt, nachdem er gegebenenfalls nur Nuancen verändert oder die Instrumentierung an die Erfordernisse des neuen Orchesters angepaßt hatte. In der derzeit im Theater an der Wien gezeigten „Elisabetta d’Inghilterra“, uraufgeführt 1815, wähnt man sich schon bei den ersten Takten der Ouvertüre im falschen Werk. Die nämlich kennt man vor allem aus dem „Barbier von Sevilla“ - der aber erst rund vier Monate nach der sich um das Liebesleid der englischen Königin rankenden Oper Premiere hatte. Neu war sie aber auch im Oktober 1815 schon nicht mehr, hatte er sie doch bereits 1813 für seinen „Aurelio in Palmira“ verwendet. Das gleiche Schicksal widerfuhr auch der Auftrittsarie der Elisabetta, die eigentlich aus dem „Aurelio“ stammt und später im „Barbier“ nochmals erklingt.
Doch der Meister aus Pesaro bietet durchaus auch Neues in diesem heutzutage extrem selten gezeigten Werk, verzichtet er doch erstmals auf Secco-Rezitative mit bloßer Cembalobegleitung, sondern verbindet die Arien und Duette stattdessen mit vom Orchester untermalten Passagen. Außerdem wertet er die Rolle des Chores zum ersten Mal deutlich auf und schreibt zudem die halsbrecherischen Koloraturen und Verzierungen in seinen Arien erstmals Ton für Ton in die Partitur, statt sie dem Ideenreichtum, dem Improvisationstalent und der Tagesform der jeweils singenden Diva zu überlassen. Deshalb kann das Werk durchaus als Aufbruch in ein neues Zeitalter gelten, wenn auch der Stoff auf den seinerzeit bewährten Zug der historisch-romantischen Oper aufspringt. Hier werden historisch verbürgten Persönlichkeiten keineswegs belegte Begebenheiten, Konflikte und Amouren angedichtet und in diesem Fall ist erneut Elisabeth I. involviert, die Rossinis Kollege Gaetano Donizetti ebenfalls gerne Liebesqualen und Kämpfe durchleiden ließ, wie beispielsweise in seinem „Roberto Devereux“ oder „Maria Stuarda“.
 
Der Librettist Giovanni Schmidt, gefragter Textschreiber für Rossini und seine Zeitgenossen Saverio Mercadante und Giovanni Pacini, dichtet der als jungfräulich lebenden Herrscherin in die Geschichte eingegangenen Elisabeth eine tiefe Liebe zum Grafen Leicester an. Der hat aber heimlich ausgerechnet die Tochter ihrer Halbschwester und Erzfeindin Maria Stuart, Matilde, geheiratet, die nun ihrem Gatten trotz Verbannung zusammen mit ihrem Bruder Enrico nach England gefolgt ist. Der Graf von Norfolc nutzt Leicesters Vertrauen aus und enthüllt der Königin dessen Geheimnis, weil er sich selbst Chancen bei Elisabeth ausrechnet. Doch die Intrige mißlingt, Leicester - zuvor samt Gattin und Schwager zum Tode verurteilt - rettet der Königin das Leben, wird begnadigt, Norfolc stattdessen gerichtet und Elisabeth I. entsagt der Liebe für immer, um sich ganz ihrem Amt zu widmen.
 
Um den inneren Zwiespalt zwischen tief empfundener Liebe und damit einer zutiefst persönlichen Ebene und dem öffentlichen Amt und den damit verbundenen Pflichten dreht es sich in der stringenten und überzeugenden Inszenierung von Amélie Niermeyer. Die ehemalige Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses läßt die Privatperson Elisabetta in moderner Alltagskleidung auftreten - über weite Teile des Abends trägt sie eine schlichte Hose im Stile Marlene Dietrichs. Wann immer sie aber Königin und damit öffentliche Person ist, schlüpft sie in mit überbordendem Prunk verzierte Roben im Stile des 16. Jahrhunderts mit ausladenden, auf meist rollenden Gestellen positionierten Röcken. Diese Verkleidung läßt die Königin sich quasi schwebend über die schlichte, ansonsten requisitenlose Bühne bewegen.
Das Korsett des Regentinnenamtes wird der Person Elisabetta zusehends zu eng, fast widerwillig zwängt sie sich in die sie einschnürende, beengende Kluft, die ihr die Luft zum Atmen zu nehmen scheint. Die hat Kirsten Dephoff mit viel Liebe zum Detail gestaltet und vermittelt darüber hinaus mit den karierten Anzügen, in die sie Leicester, Matilde und Enrico steckt, unterschwellig schottisches Lokalkolorit. Die Bühne wird durch riesige, bewegliche Wände begrenzt, die die Bühnenraum immer wieder anders erscheinen lassen, ihn öffnen oder beengen und so durchaus Beklemmung vermitteln. Je nachdem, wie das ausgefeilte Licht von Gerrit Jurda sie anscheint, wirken sie fast ledern oder erstrahlen in royal-bronzenem metallischen Glanz. Elisabettas Berater Guglielmo fungiert als Zeremonienmeister. Er achtet darauf, daß dem Protokoll, wann immer nötig, Genüge getan wird, und überwacht so die Selbstkasteiung der Regentin. Zur Abschlußarie, in der sie am Ende selbstlos die Liebe zwischen Matilde und Leicester triumphieren läßt, steigt sie jedoch folgerichtig aus eigenen Stücken in ihr Korsett. So gelingt Amélie Niermeyer eine rundum schlüssige Lesart des vielschichtigen Stoffes.


Norman Reinhardt (Leicester), Barry Banks (Norfolc) - Foto © Herwig Prammer
 
Im Graben wird historisch informiert musiziert. Jean-Christophe Spinosi führt sein Ensemble Matheus gekonnt durch den Abend und bereitet eigentlich den Weg für ein Belcanto-Fest. Doch für Belcanto-Puristen ist diese Elisabetta nichts. Alexandra Deshorties verfügt zwar über die nötige Geläufigkeit und meistert die einkomponierten Koloraturen, ist aber keine Montserrat Caballé. Sie legt so viel Seele in ihre Interpretation, daß die stellenweise eher nach Verismo klingt. So macht sie die Elisabeth zu einer wahrhaft empfindenden Frau weit jenseits einer endlose Verzierungen abspulenden Singmaschine. Sie verkörpert im besten Wortsinne die Zerrissene, die zwischen der Bürde des Amtes und der enttäuschten, von Rachegelüsten zerfressenen Privatperson steht. Dabei klingen einzelne Passagen durchaus schrill, das paßt aber zum Ansatz der kanadischen Künstlerin. Auch der von ihr angebetete Leicester entspricht in der Interpretation nicht dem Belcanto-Ideal. Zwar verfügt Norman Reinhardt über scheinbar endlosen Atem und zeigt viel Ausdruck, jedoch bemüht der junge Amerikaner die Kopfstimme allzu oft. Dem klassischen Belcanto-Gesang kommt Barry Banks als Norfolk wohl am nächsten. Er zeigt seinen schlanken, in der bombensicheren Höhe wie kaltes Metall klingenden Tenor und gibt den schmierigen Intriganten mit augenscheinlicher Freude an der Rolle. Mezzosopranistin Ilse Eerens legt viel Wärme in ihre Stimme und läuft als Matilde im Duett mit der Königin zu Höchstform auf. Erik Årman als tadellos singender und spielender Guglielmo und Natalia Kawalek als stimmlich solider, aber darstellerisch blasser Enrico komplettieren das Ensemble zusammen mit dem bestens disponierten und von Erwin Ortner betreuten Schönberg-Chor, der hier, wie eingangs erwähnt, recht gut zu tun hat.
Gab es zur Pause noch vereinzelt Unmutsbekundungen gegen die Interpretation von Alexandra Deshorties, war das Publikum im voll besetzten Haus nach knapp drei Stunden zur recht begeistert, von dieser ungewöhnlichen und nichtsdestoweniger auf ganzer Linie überzeugenden Darstellung der Titelrolle und den übrigen Protagonisten.
 
Bildnachweis:
Die Fotos stammen von Herwig Prammer.