Auftrittsverbot für Erdogan ist Wahlkampf statt Politik

Ein Kommentar

von Ulli Tückmantel

Foto © Anna Schwartz
Auftrittsverbot für Erdogan
ist Wahlkampf statt Politik
 
von Ulli Tückmantel
 
Selbstverständlich ist es vollkommen richtig, dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan weitere seiner sattsam bekannten Auftritte in Deutschland klar und unmißverständlich zu untersagen. Die Liste der Gründe dafür ist lang: Sie reicht vom ständigen verbalen Landfriedensbruch in Deutschland (nichts anderes sind Erdogans Anti-Integrations-Reden), über aus Ankara gesteuerte Spionage-Imame bis zur Errichtung einer präsidialen Diktatur und der faktischen Staats-Geiselnahme kritischer Journalisten.
     Wie wir in Wahrheit aber alle wissen, hat keiner dieser Gründe die Regierungsmitglieder der großen Koalition bisher dazubewegen können, den deutschen Kurs gegenüber der Türkei endlich zu klären. Innenpolitisch läßt der Bund jede Landesregierung einzeln im Umgang mit dem Staats-Moscheeverein Ditib herumeiern. Ditib untersteht der Religionsbehörde Diyanet. Nachrichten-Agenturen berichten, in dieser Woche habe die Türkei massenhaft kirchliche Besitztümer der syrisch-orthodoxen aramäischen Christen enteignet und an Diyanet überführt. Es soll sich um mehr als 50 Kirchen, Klöster und Grabanlagen handeln. Von deutscher Seite dazu diplomatisch kein Wort, nichts.
     Das Auftrittsverbot für Erdogan ist schlicht Teil des Bundestagswahlkampfs. Vor der Bundestagswahl wollen weder CDU noch SPD die Bevölkerung verprellen. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz erhob die Forderung zuerst, Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) ließ die entsprechende Ankündigung folgen, Regierungssprecher Steffen Seibert nickte das Auftrittsverbot ab. Das wird Erdogan kurz vor dem Jahrestag seines kalten Staatsstreichs nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 weiter bestärken, das Märchen von der mangelnden deutschen Solidarität mit dem türkischen Volk zu erzählen, das seine Demokratie in einer blutigen Nacht auf der Straße verteidigt habe (um sie am Morgen von ihm abschaffen zu lassen).
     Das sachlich richtige Auftrittsverbot aus wahltaktischen Gründen ersetzt weder innen- noch außenpolitisch einen klaren Kurs gegenüber Erdogan: Sowohl die Kanzlerin (CDU) als auch ihr Außenminister (SPD) sind politisch atemberaubend erfolglos in ihrem Bemühen, den seit fast 140 Tagen inhaftierten Journalisten Deniz Yücel freizubekommen oder auch nur eine Status-Klärung des Bundeswehr-Stützpunkts Incirlik herbeizuführen.
 

Der Kommentar erschien am 30. Juni 2017 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.