Die Wurzeln deutscher Rechtsprechung

Heiner Lück – „Der Sachsenspiegel. Das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters“

von Johannes Vesper

Der Sachsenspiegel

Das einflußreichste Rechtsbuch deutscher Sprache
 
Von Johannes Vesper
 
Eigentlich gilt Martin Luthers Bibelübersetzung als eine der Grundlagen moderner deutscher Sprache. Aber schon weit vor Luther entstand in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eines der ersten Prosawerke in elbostfälischem Niederdeutsch, welches damals in der Heimat des Verfassers (Elbe-Saale-Raum) gesprochen wurde. Eike von Repgow, ca. 1180 – nach 1233, war vom Grafen Hoyer II, der auf der Burg Falkenstein im Harz lebte, beauftragt worden, das herrschende und nur mündlich weiter gegebene mittelalterliche Gewohnheitsrecht aufzuzeichnen. So schrieb Eike, dessen juristische Tätigkeit als Schöffe und Zeuge bei Rechtsgeschäften seiner Zeit dokumentiert ist, um 1220 das 1. deutsche Rechtsbuch, den „Sachsenspiegel“, der bis 1802 benutzt wurde und die deutsche Rechtskultur und Sprache erheblich geprägt hat. Das Werk wurde nach Fertigstellung fortlaufend illustriert. Diese Bildgeschichten, mittelalterliche Comics sozusagen, sollten den juristischen Text verdeutlichen, boten Interpretationshilfen und zeigen das mittelalterliche Leben, wie z.B. den Beischlaf einer Frau mit dem ehrlosen Spielmann oder die Pfändung durch den Fronboten (Gerichtsvollzieher). Zimperlich war man nicht: Wer unberechtigt Gericht gehalten hatte, verlor die Zunge. Im Sachsenspiegel waren Verbrennung, Enthauptung, Verstümmelungsstrafen je nach Schwere der Schuld vorgesehen. Man sieht Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen: Aussätzige, Stumme, Blinde, Mann ohne Fuß und Hand. Für in ihrer Bewegung Beeinträchtigte gab es offensichtlich Gehstöcke und Kriechhilfen. Jungfrauen wurden charakterisiert durch offenes Haar, die Ehefrau durch ihr Kopftuch, die Witwe durch einen Schleier, der Dorfvorsteher durch den Strohhut und der Bischof durch den Krummstab. Das „Glücksrad“ symbolisierte die besondere Verantwortung der Schöffen und Richter, deren persönliches Schicksal sich schnell drehen konnte. Merkwürdig, daß auch schon im alten Indien des 3. Jahrhundert v.u.Z. das Darmachakra-Rad (siehe indische Nationalflagge) die Gerichtsbarkeit symbolisierte. Sind die Sachsen etwa indischen Ursprungs, also echte Indogermanen? Vielleicht sind sie ja ursprünglich Griechen und haben mit Alexander, dem Großen (gest. 323 v.u.Z), „ganz Asien“ erobert und sich dann, weil sie dort als Migranten nicht akzeptiert wurden, mit 300 Schiffen davon gemacht. Etliche Schiffe sind wohl untergegangen aber der Rest landete in Niedersachsen und eroberte mit dem Sachs, ihrem Kurzschwert, Mitteldeutschland. Wilde Spekulationen? Wer weiß? Widukind von Corvey (925-935) hat jedenfalls diese Geschichten schon erzählt.


 Sachsenspiegel - Jungrfau und Witwe vor einem Richter

Bemerkenswert, daß das so bedeutende Rechtsbuch von einem juristischen Laien aufgeschrieben wurde; denn Jura als Studienfach einer Universität gab es in Deutschland erst mit der Gründung der Universitäten von Prag (1348), Heidelberg (1386), Köln (1388) und Erfurt (1392). Und den wichtigsten Kommentar - damals Glosse genannt - zum Sachsenspiegel schrieb der brandenburgische Hofrichter Johann von Buch (1290-1356), der laut Matrikeleintrag um 1305 in Bologna studiert hatte. Dort studiert man Jura schon seit 1088. Seine Ausgabe des Sachsenspiegels stabilisierte die Justiz der damals wackeligen Mark Brandenburg, weil sich deren konservative Stände schwer taten mit ihrem neuen Markgrafen, dem 8-jährigen bayrischen Wittelsbacher Ludwig. Er war ihnen nach Aussterben der Askanier vom deutschen König Ludwig, dem Bayer (Wittelsbacher), vor die Nase gesetzt worden. Vielleicht liegt hier ja schon der Grund für die bekannten preußisch-bayrische Animositäten
Ob Eike von Repgow, Zeitgenosse von Walther von der Vogelweide, lesen konnte? Wahrscheinlich. Ob er auch schreiben konnte, ist noch unklar. Vielleicht hat er sein Rechtsbuch auch diktiert. Gebildet war er, nachdem er wohl die Domschulen von Quedlinburg und /oder Halberstadt besucht hatte.
Sein Sachsenspiegel wurde zunächst in Sachsen angewandt, welches durch Karl den Großen in das Reich der Franken integriert worden war. Schon Karl hatte mit seinen königlichen Verordnungen das Recht erheblich beeinflußt. Er hatte beispielsweise Schöffen als Laienrichter in die Grafengerichte eingeführt. Noch heute erinnern die Rolandstatuen Mitteldeutschlands an das kaiserliche Recht Karls des Großen. Roland, Markgraf der Bretagne und Karls Pfalzgraf, wurde sozusagen als oberster Richter des Reiches damals besonders geschätzt. Seit den sächsischen Königen (nach Heinrich I) dehnte sich das Reich nach Osten aus, entsprechend auch das Recht des Sachsenspiegels. Zusammen mit dem Magdeburger Stadtrecht beeinflußte er das Recht über Schlesien und Polen hinaus bis hin nach Weißrußland, Galizien und zum Baltikum. In Krakau wurde unter Kasimir dem Großen (1333-1370), ein Gericht gegründet, welches für die Orte in der Umgebung Krakaus als Oberhof, als „Obergericht“ fungierte, also Rechtsauskünfte in unklaren Fällen gab, sozusagen als höhere Instanz wirkte. Nach der Erfindung des Buchdrucks fanden sich schnell gedruckte Ausgaben in Basel, Köln, Augsburg, Leipzig und in Polen. Nach Abspaltung der Ukraine von Polen wurden 1721 noch ukrainische Ausgaben des Sachsenspiegels gedruckt. Natürlich nutzte die jedes Recht pervertierende NSDAP das Jubiläum zum 700. Todestag des Verfassers für ihre Propagandazwecke und vereinnahmte den „Sachsenspiegel“ für ihre „Blut und Boden-Ideologie“ (siehe auch das 1934 an der Kirche von Reppichau aufgestellte Denkmal im typischen Nazi-Stil).


  Sachsenspiegel - Der Fronbote

Finden sich im geltenden deutschen Recht noch Spuren des Sachsenspiegels? Immerhin wird eine Reichsgerichtsentscheidung von 1932 zitiert, in der bei einer Erbangelegenheit auf den Sachsenspiegel verwiesen wird. Das mittelalterliche Prangerstehen ist im heutigen Strafgesetzbuch zwar nicht mehr vorgesehen; aber Spielschulden waren schon laut Sachsenspiegel nicht einklagbar. „Wo kein Kläger, da kein Richter“ galt damals auch schon bei allerdings fehlender Staatsanwaltschaft. Kirchenasyl und „Schuldunfähigkeit“ gibt es noch heute. Und Personen, die die deutsche Sprache nicht beherrschten, hatten schon im Sachsenspiegel einen Anspruch auf einen Dolmetscher. Wenige Jahrzehnte vor der Entstehung des Sachsenspiegels waren vom Magdeburger Erzbischof Flamen bis zur Elbe und darüber hinaus angesiedelt, wovon noch Städte- (Aken an der Elbe) oder Flurnamen (Fläming) zeugen. Obwohl im Sachsenspiegel auf die Flamen nicht ausdrücklich Bezug genommen wird, gab es offensichtlich schon Sprachprobleme in Mitteldeutschland, wo ja auch Sorben und Wenden hausten. In einem eigenen Kapitel werden Überbleibsel des mittelalterlichen Rechtsbuches im heutigen Recht untersucht.
Porträts bieten Informationen über für die Rechtsgeschichte des Mittelalter wichtige Personen (Karl der Große, Friedrich II). In eigenen Kapiteln wird ferner über die Personen berichtet, die den Sachsenspiegel aufgeschrieben, glossiert und modernisiert haben (Eike von Repgow, Johann von Buch, Christian Zobel).
 
Zusammenfassend liegt jetzt also ein nicht nur für Juristen geschriebenes, sehr kenntnisreiches, gut lesbares, reich bebildertes und sehr interessantes Buch zum Sachsenspiegel vor, welches die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zu diesem großen deutschen Rechtsbuch zusammenfaßt. Autor Prof. Dr. jur. Heiner Lück von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg beschäftigt sich seit langem mit dem Thema und leitet seit 2004 das Projekt: „Das sächsisch-magdeburgische Recht als kulturelles Bindeglied der Rechtsordnungen Ost- und Mitteleuropas“ (Sächsische Akademie der Wissenschaften).
 
Heiner Lück – „Der Sachsenspiegel. Das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters“
© 2017 Lambert Schneider Verlag / WBG,  174 Seiten, gebundene Ausgabe mit Zahlreichen Abbildungen - ISBN 978-3-650-40186-1
49,95€ (Einführungspreis), später 69,95 €

Weitere Informationen:  https://www.wbg-wissenverbindet.de/