Seh-Reise (8)

Achte Ausfahrt: Erfurt, Mariendom

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (8)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
8. Ausfahrt: Erfurt, Mariendom
 
Der Leuchter aus Bronze, im Halbdunkel einer Kirche.
Ein alter Mann, der mit beiden Armen Kerzenschalen in die Höhe hält, daß es hell sei. Seine Gesichtszüge, die Kleidung gezeichnet von der Herbheit der Romanik.
Es ist noch nicht so lange her, da hat diese Plastik in meinem Leben Epoche gemacht. Unvermutet, ungesucht war ich auf ein Stück Kunst gestoßen, von dem ich nie etwas gehört hatte. Und es hat mich, was mir nicht mehr jeden Tag geschieht, in seinen Bann gezogen. Jedesmal, wenn ich in der Stadt dieser romanischen Bronze war, mußte ich die breite Treppe hochsteigen zum Dom, mußte ihn sehen, diesen alten Mann, der Licht bringt den Menschen, der Welt. Oft hatte ich nur die Zeit für einen Blick, aber den versäumte ich nie.
Es war im Winter 2001/2002, als ich in Erfurt an der Universität als „Artist in Residence“ eingeladen war (so wurde es genannt). Vier Monate kam ich vierzehntägig in die Stadt, um zusammen mit Studenten einen literarischen Text zu verfassen, eine Geschichte, die sich um ihren studentischen Alltag rankt (2002 erschienen unter dem Titel ERFURT ERFINDEN).
Bei meinen ersten Erkundungsgang durch die Stadt hatte ich den „Wolfram“ entdeckt. Ich stand vor ihm – und war geschlagen. Aber wovon?
Jetzt, nachdem ich die Kunstkarte eine Woche lang vor Augen hatte, sage ich: Es ist das Bild von Anstrengung, wie es in der Haltung des Oberkörpers sich ausspricht. das mich fesselte. Leicht hängend die Schultern, unter dem Gewicht der beiden Schalen, die der alte Mann nach oben stemmt, den Bauch in einer Gegenbewegung zum Rundrücken nach vorn gedrückt, gewölbt. Doch nicht, weil der Mann fett ist. Im Gegenteil. Nur die Muskulatur ist, altersbedingt, erschlafft und kann das Gewebe um die Leibesmitte nicht mehr halten. Da ihm sein Wams zudem eng und glatt anliegt, wie eine zweite Haut, zeigt sich die Anstrengung seines Tragens schonungslos offen. Kein Wunder, daß die Bildhauer sich lieber die Jungen zum Modell nehmen, wenn sie die Idealform der Gattung verherrlichen wollen, in der Blüte menschlicher Schönheit und Kraft.
Der Oberkörper dieses alten Mannes ist eine vollkommen naturalistische Studie von Alter und Mühsal, ohne jede Stilisierung (im Gegensatz zu dem Kopf und dem fußlangen Rock). Bis heute ist diese Haltung gültig, sie könnte, nein: sie kann nicht anders dargestellt werden. Und ist bald tausend Jahre her, seit der anonyme Bildhauer sie gefunden hat.

Foto © James Steakley
Haltung ist in diesen Oberkörper hinein modelliert, in zeitloser Art, und Kraft. Die Kraft eines alten Menschen. Verbraucht und abgenutzt, nicht mehr auf ihrer einstigen Höhe, aber immer noch sichtbar da, ohne die Spur von Hinfälligkeit, von Überforderung. Da tut einer das Seine, so gut er’s kann, in den Grenzen seines Alters. Auch der Kopf, vorgeschoben, ist der eines alten Mannes. Das volle Haupthaar nach vorn in die Stirn gelegt, in einzelnen Fransen, der Bart um Oberlippe, an Kinn und Wangen – kunstvoll gestuft und drapiert, in der Mode des frühen Mittelalters. Eine Bartfrisur, kein Altmännergezottele. Die breite, lange Nase, vor allem aber der Mund mit seinen vollen Lippen geben dem Erfurter Wolfram durchaus negroide Züge, oder orientalische. Zusammen mit dem sorgfältig dressierten Bart stünden sie auch einem alttestamentarischen König gut zu Gesicht, oder einem ägyptischen Pharaonen.
Der Blick der Augen groß geradeaus gerichtet, in eine ferne Weite. Oder ist es die Kurzsichtigkeit seiner Jahre?
Ja, das war es wohl, was mich in diesem Winter damals angezogen und immer wieder hierher gezwungen hat: Alter und Kraft. Selbstbeherrschung und Widerständigkeit, im Dienst einer Sache (hier des Lichtbringens), bis zuletzt. Demut.
Als ich den Wolfram im Erfurter Dom entdeckte, war ich in seinem Alter, wenn nicht älter. Gut möglich (das vermute ich), daß ich aus diesem Bildnis Zuversicht und Ansporn gezogen habe für das Stück Lebensweg, das ich noch zu gehen habe. Sich aufrecht zu halten mit den Erfahrungen und dem erworbenen Können, in den sichtbar werdenden Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind. Selbst zu sein im Dämmer unserer Endlichkeit.
Heute, da ich das schreibe, jähren sich wieder einmal die technologischen Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima, als in der Ukraine und in Japan Atomkraftwerke auseinanderflogen, zum „größtmöglich anzunehmenden Unfall“ mit Atomenergie (der jedenfalls an die Öffentlichkeit gedrungen ist). Lichtfester der anderen Art. Mögen ihre Schäden nicht dauerhafter sein für uns Menschen und jede belebte Kreatur in diesem Lebensraum, als die bescheidene Plastik mitteldeutscher Romanik, unterlebensgroß, in Bronze gegossen, vor einer langen Reihe von Generationen - deren Kraft bis heute strahlt.
 
WOLFRAM. Romanischer Bronzeleuchter (um 1160)
Mariendom Erfurt
 
Redaktion: Frank Becker