Schlangen unter Blumen

Ein Topos der abendländischen Literatur

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Schlangen unter Blumen
 
Ein Topos der abendländischen Literatur

Von Heinz Rölleke
 
In TV-Krimi-Serien wird dem hervorragenden Schauspieler Alexander Held immer einmal wieder ein Klassiker-Zitat in den Mund gelegt, und so sagt er etwa im Film „Kein Mensch, kein Problem“ (Erstsendung 2016, Wiederholung August 2018) als Ermittler „Schaller“ zu einer attraktiven, aber eiskalten Agentin - und halb zu sich selbst - : „Blick harmlos wie die Blume,/ Doch sei die Schlange drunter!“ Das ist ein Wort der Lady Macbeth aus Shakespeares Drama (1. Akt, 5. Szene). Kaum einer der vielen Rezensenten des Films geht darauf ein, vielleicht weil das Zitat nicht erkannt wurde oder unerheblich schien. Immerhin an einer Stelle kann man lesen, daß „Herr Schaller einmal wieder auf Shakespeare-Versen wandeln darf.“
 
Das Bild von der Schlange unter Blumen, des unerwartet Gefährlichen oder Häßlichen unter dem Schönen, scheint beim Rezipienten noch an etwas Bekanntes appellieren zu wollen. Und in der Tat steht das Shakespeare-Wort in einer langen und großen Tradition, von der einige Stationen hier zusammen- und vorgestellt werden sollen.
 
Den römischen Dichter Vergil (70 vor bis 19 nach Christus) hat man den Vater des Abendlandes genannt, und einige Zitate waren nicht nur in der Antike, sondern vor allem im Mittelalter und sogar noch bis in die Gegenwart hinein besonders vertraut. Seine ungewöhnlich breite Präsenz in der frühchristlichen und mittelalterlichen Literatur war unter anderem durch die Interpretation der vierten Ecloge, in der von der Geburt eines heiligen Knaben in der Fülle der Zeiten die Rede ist, als Zeugnis eines erleuchteten Heiden für die Ankunft des Messias im Kinde Jesus vorgegeben.
 
Sein Bild von der Schlange unter Blumen gibt er in der dritten Ecloge (Vers 92):
 
 Qui legitis flores […], fugite hinc, latet anguis in herba.“
 (Die ihr Blumen pflückt […], flieht von hier, die Schlange lauert im Gras.)
 
Es ist zu vermuten, daß man auch dieses Bild mit einer biblischen Urszene in Verbindung brachte, was ihr allein schon Popularität garantiert hätte. Es geht um die Szene im Buch Genesis, wo Eva sich von der Schlange verführen und damit ins Unglück bringen läßt: Im Paradies sprach die Schlange zum Weib, wenn ihr von den durch Gott verbotenen Früchten eßt, werdet ihr sein wie Gott. Und Eva sah, daß der fruchttragende Baum lieblich anzusehen war, und sie nahm von der Frucht (1.Mose III.1-6).
 
Unter schöner Gestalt (erst nach der späteren Verfluchung durch Gott muß sie Staub fressend auf dem Boden kriechen) nähert sich die Versuchung dem Menschen, und ihre Schönheit harmoniert mit den lustvoll anzusehenden Früchten des Baumes (in diesem Sinn ist auch die Gestaltung der Schlange auf Michelangelos berühmtem Bild in der Capella Sixtina aufzufassen). Der Mensch wird durch Schönes und scheinbar Wertvolles, das er in seiner Gefährlichkeit nicht durchschaut, verführt. Und Ähnliches zeigt auch das Vergil'sche Bild: Die Lust am Anschauen und Pflücken der Blumen oder Früchte läßt die im Verborgenen lauernde Gefahr übersehen. So erging es der Stammmutter Eva, und so kann es vor allem jungen Menschen immer wieder geschehen.
 
Die Gefahr, von der Vergil spricht, läßt sich wohl näher bestimmen. Schon in der antiken und vollends in der mittelalterlichen Dichtung steht das Bild des Blumenpflückens (das Rosenbrechen) für unkonventionelle erotische Abenteuer. In der Begegnung mit einem nicht oder kaum bekannten Mädchen kann sich der unbedachte Liebhaber leicht eine schwere Erkrankung zuziehen: die Syphilis, die mit vielen Decknamen bezeichnet wurde, als Mal de Naples, Maladie française, aber auch Englische, Schottische oder Polnische Krankheit (man bemerkt unschwer, wie man jahrhundertelang immer wieder ein anderes Volk fürs Einschleppen der Seuche verantwortlich machte).
 
Das Vergil'sche Bild war in der europäischen Literatur, wenn auch in immer neuen Varianten verbreitet; als Beispiel sei nur auf Calderóns Schauspiel „Balthasar“ von 1632 verwiesen, wo aus den „flores“ die auch von Vergil berufenen „herba“ werden und statt der „anguis“ ein Krokodil begegnet:
 
            „Wo ein Krokodil im Laube
            Tödtlich lauert, wen es raube.“
 
Der barocke Vielschreiber Georg Philipp Harsdörffer bietet das Bild schon 1648 gleich zweimal, wobei er die intendierte übertragene Bedeutung eigens beruft oder als bekannt voraussetzt:
 
            „Die Kirchen Väter haben gesagt daß ein solcher [Unzüchtiger, der sich   mit einer „geilen Frau“ einläßt] neben einer Schlangen auf einem mit bunten Blumen gezierten Feld schlafe und daß er nicht unverletzt davon kommen könne.“
 
            „Der falsche Mensch [der eine „einfältige Dirne“ verführte] war gleichsam der Betrug selbsten […] in dem diese Schlange sich unter die Blumen zu verbergen wußte.“
 
In der Rokoko- und Schäferdichtung begegnet das Bild allenthalben um die Mitte des 18. Jahrhunderts. In Friedrich von Hagedorns Gedicht „Phyllis“ von 1757 ist die Rede von dem was der naiv Liebenden die „süße Lust vergällt“:
 
            „Die gleichet dem, der, zwischen Laub und Gras    
            Nach Blumen greift, und eine Schlang' entdecket.“
 
Es fällt auf, wie fest die Vorstellung schon damals die Rollenverteilung der Vorstellung war, daß nämlich der Lust suchende Mann unter den Blumen erotischer Freuden die darunter lauernde Gefahr der schrecklichen Erkrankung erkennen muß, denn Hagedorn tauscht hier etwas umständlich die Rollen, um das Bild seinem Kontext anzupassen. Bei Christoph Martin Wieland findet sich der Vergil'sche Topos häufig. Schon in seinem „Endymion“ von 1762 und im „Neuen Amadis“ von 1771 ist von jugendlichen Liebhabern die Rede:
 
            „ein Kind, das einst im Grase spielte,
            Nach Blumen griff und eine Schlange fühlte“
 
            „ein Knabe, der Blumen brach
            Und eine Natter haschte.“
 
Der Superintendent Johann Gottfried Herder ruft in seiner Schrift „Auch eine Philosophie“ von 1774 den Heiland an, junge Menschen, die ihre ersten erotischen Erfahrungen machen, vor Verderben zu retten, etwa
 
            „einen Jüngling, der jetzt unter den ersten Rosen des Lebens, die er zu brechen glaubte, eine Feuerschlange fand.“
 
Goethe, hatte offenbar während seiner fast zwei Jahre währenden italienischen Reise die Angst vor einer Ansteckung mit der Mal des Naples nicht losgelassen (die Herrn Schwerdtlein im „Faust“ den Tod gebracht hatte, denn „ein schönes Fräulein nahm sich seiner an,/ Als er in Napel(!) fremd umher spazierte;/ Sie hat an ihm viel Lieb's und Treu's getan,/ Daß er's bis an sein selig Ende spürte“). Er hat das Bild 1795 in der „Römischen Elegie“ Nr. XVIII ausgeführt und allgemein bekannt gemacht:
 
            Eines ist mir verdrießlich, vor allen Dingen, ein andres
                        Bleibt mir abscheulich, empört jegliche Faser in mir,
            Nur der bloß Gedanke: Ich will es euch, Freunde, gestehen:
                        Gar verdrießlich ist mir einsam das Lager zu Nacht.
            Aber ganz abscheulich ist's , auf dem Wege der Liebe
                        Schlangen zu fürchten, und Gift unter den Rosen der Lust,
            Wenn im schönsten Moment der hin sich gebenden Freude
                        Deinem sinkenden Haupt lispelnde Sorge sich naht.“
 
Karl Leberecht Immermann konnte sich dann 1836 in seinem Roman „Die Epigonen“ ganz kurz fassen und trotzdem sicher sein, verstanden zu werden: „Lauert nicht auch hier die Schlange unter den Blumen?“
 
Gleiches gilt schließlich für Hugo von Hofmannsthal, als er 1911 in seinem berühmten „Jedermann“ die Begegnung des Titelhelden mit seiner nicht eben sittenstrengen Buhlschaft gestaltete. Statt an bevorstehende Festes- und Liebesfreuden zu denken, spricht der melancholische Jedermann unvermittelt von Tod und Sterben. Das sind für seine Buhlschaft natürlich Tabuthemen, denen sie mit dem in ihrem Sinn angepaßten Bild von der Schlange unter Blumen zu wehren versucht:
 
            „Das Wort [Tod] allein macht mir schon bang,
            Der Tod ist wie die böse Schlang,
            Die unter Blumen liegt versteckt,
            Darf niemals werden aufgeweckt.“
 
Jedermann versucht etwas krampfhaft, dem Bild Positives abzugewinnen:
 
            „Du Süße, schaff ich dir noch Sorgen?
            Wir lassen sie unter Blumen verborgen         
            Und wissen nirgend nichts von Schlangen,
            Als zweien, die gar hold umfangen.
            [….]
            Das sind die lieben Arme dein,
            In diese sehn ich mich hinein.“
 
In pantomimischer Antwort setzt ihm Buhlschaft „einen bunten Blumenkranz“ auf – aber auch mit diesem Symbol ist die „Schlang“ nicht zu vertreiben, wie Jedermanns nächstes Wort erweist:
 
            „Seid allesamt willkommen sehr,
            Erweist mir heut die letzte Ehr.“
 
Der baldige Tod, zu dem man ihm die „letzte Ehr“ erweisen wird, ist in der weiteren Folge der Szene nicht mehr zu verdrängen, und als der leibhaftige Tod auftritt, ist Buhlschaft die erste, die den Sterbenden fliehend verläßt. Man stünde gewiß in der Gefahr der Überinterpretation, wenn man aus all dem folgerte, das Sterben Jedermanns sei durch die unter den Blumen seines amourösen Abenteuers lauernde Schlange, durch eine tödliche Ansteckung eben, hervorgerufen. Ganz von der Hand zu weisen ist das im Blick auf die abendländische Tradition dieses zu Beginn der Sterbeszene berufenen Bildes allerdings nicht.
           
           
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2018