Nord-Koreas Chuch’e-Architektur in Pjönjang - Eine unwirkliche Welt vom Reißbrett

Oliver Wainwright – „Inside North Korea“

von Frank Becker

Foto © Oliver Wainwright

Eine unwirkliche Welt vom Reißbrett
 
Nord-Koreas Chuch’e-Architektur in Pjönjang
 
Bobonfarbene Monumental-Architektur-Gigantomanie, aberwitziger Personenkult und nahezu unbevölkerte Straßen und öffentlich Gebäude prägen das Bild von Nord-Koreas Hauptstadt Pjönjang. Nach der völligen Zerstörung Pjönjangs im von Nordkorea losgetretenen Koreakrieg, der von 1950 bis 1953 vier Millionen Menschenleben kostete, ließ der „ewige Präsident“ Kim Il Sung die Hauptstadt nach der von ihm ausgerufenen Chuch’e-Architektur“ völlig neu konzipieren. Die Chuch’e definierte Kim so: „Chuch’e bedeutet, daß alle Probleme der Revolution und des Wiederaufbaus unabhägig zu lösen sind, und zwar weitgehend ohne Hilfe von außen und den Fähigkeiten des Landes entsprechend.“
Es entstand eine Stadt aus der Retorte, die in der Tat einen ganz eigenen Baustil in bunten Pastellfarben zeigt, aber eben kaum Leben. Alles hatte „national in der Form und sozialistisch im Inhalt“ zu sein. „Ein Bühnenbild“ wie Oliver Wainwright, der Autor des hier vorgestellten Bildbandes es beschreibt. Es ist ein Land der Illusion, eine schillernde Seifenblase für das Auge der Welt.


   Foto © Oliver Wainwright

Nur wenige Film- und Foto-Aufnahmen schaffen den Weg durch die allgegenwärtige Zensur dieses in einer kommunistischen Steinzeit-Diktatur erstarrten Landes nach draußen. Der englische Journalist und Fotograf des Guardian Oliver Wainwright bekam 2015 die Gelegenheit zu einer Gruppen-Informationsreise in das hermetisch abgeriegelte, vom Rest der Welt weitgehend abgeschottete Land mit seinen rund 24 Millionen Einwohnern, von denen ständig mehr als eine Million als Soldaten der Land- und die Luftstreitkräfte unter Waffen stehen. Nordkoreas Armee ist die zweitgrößte in Asien nach der Volksrepublik China. Doch im Gegensatz zum  großen Bruder im Norden denken die in Erbfolge regierenden Diktatoren Nordkoreas nicht im Traum daran, einen Wandel im System und eine Öffnung zur Welt einzuleiten, wenn auch der momentane Diktator Kim Jong-un derzeit scheinbar die Hand zu Friedensgesprächen zum südlichen Nachbarn und den USA ausstreckt. Denn im politisch wie geistig abgeschotteten Nordkorea hat sich wohl nur der Name des Despoten geändert, nicht jedoch die Lebensumstände von Volk und Machthaber.

„Pjöngjang präsentiert sich als Stadtlandschaft voll bonbonfarbener Wohnblöcke
und pastellfarbener Interieurs – wie eine Reihe sorgfältig komponierter Bühnenbilder,
die geradewegs aus einem Wes-Anderson-Film stammen könnten.“
Oliver Wainwright


   Foto © Oliver Wainwright

Unter dem gegenwärtigen Führer Kim Jong-un wird die von seinem Großvater und Vater auch zur Manifestation des Personenkults betriebene Bautätigkeit weiter intensiviert. „Laßt uns das ganze Land in ein sozialistisches Märchenland verwandeln“, fordert einer seiner patriotischen Leitsätze, wobei der Eindruck eines irrationalen Disneyland mitten in einem Armenhaus nicht von der Hand zu weisen ist. „Im Eiltempo macht Kim aus Pjöngjang einen Spielplatz, wobei er eine illusionäre Wohlstandsfantasie beschwört und die Architektur als Anästhetikum benutzt, mit dem er die Bevölkerung zum Träumen einlädt und von der harschen Wirklichkeit seiner autoritären Herrschaft ablenkt.“ (Wainwright)

Mit dem einzigartigen Bildband „Inside North Korea“ begeben wir uns auf Wainwrights Spuren auf eine unwirkliche Reise in ein Land, das durch seine strikte Isolation – es gibt keine Internet-Verbindungen – förmlich aus der Zeit gefallen ist. Wainwrights Fotografien zeigen den ganzen Aberwitz des nordkoreanischen Systems in seinem Widerspruch zwischen staatlicher Doktrin und dem realistischen Alltag: Im wahrsten Wortsinn leer gefegte Straßen und Plätze (vgl. s. 86/87, 198/199), nahezu unbelebte Sportstätten und Stadien (S.148-152, 210-214), eine Überfülle von pathetischen Monumenten und Wandgemälden zum Ruhme der Kim-Dynastie (S. 86-101, 126, 160-165, 223-225, 234-241 u.a.m.) und tot wirkende Micky-Maus-Architekturen in den erwähnten Bonbon- und Pastellfarben. „Echte“ Menschen sind selten auf den Bildern zu sehen, meist erkennbare Inszenierungen. Da beeinduckt vor allem die Hoffnungslosigkeit, die aus Bildern wie auf Seite 198/99 spricht, wo man eine schnurgerade Landstraße zwischen gepflegtem Grün sieht, die sich menschenleer im Dunst der Ferne verliert und auf der ein einsamer Mann verlassen ins Nirgendwo zu gehen scheint.


 Foto © Oliver Wainwright

Pompöse Wunderwelten öffnen sich hinter monumentalen Steinfassaden: Marmor und Mosaik, Kassettendecken und Kristallkronleuchter prunken in der dem stalinistischen Moskau nachempfundenen U-Bahn, daneben sieht man Interieurs von stummen Hotels, leeren Restaurants und öffentlichen Gebäuden in den schillerndsten Farben und omnipräsent den „ewigen Präsidenten“ Kim Il Sung. Leer auch die Umkleideräume des erst kürzlich renovierten Stadions „1. Mai“, das geduldig auf eine Fußballweltmeisterschaft wartet, die wohl nie kommen wird.
Im palastartigen Volksstudienhaus gibt es 600 Leseräume mit 30 Millionen Bücher für 12.000 Besucher täglich - heißt es in Wainwrights Buch. Ein Rätsel, wer die 12.000 sein sollen und was in den 30.000.000 Büchern stehen soll - in einem Land, das fremde Einflüsse aussperrt. Riesig die Halle (S.162/63), in der vor rot leuchtender Bergkulisse in Marmor gehauen Kim Il Sung überlebensgroß thront, eine groteske Kopie des Lincoln Monument in Washington, D.C, mit einem Hauch von Mao Tse-tung. Eine Parodie.

Der Band, dessen
hervorragende Gestaltung ebenfalls erwähnenswert ist, enthält über 200 Abbildungen mit detaillierten Bildbeschreibungen und einen einleitenden Essay des Fotografen, in dem er die Geschichte des modernen Pjöngjang skizziert und die von Kim Il-sung, dem ersten Präsidenten Nordkoreas, entwickelte Chuch’e-Ideologie erläutert, der in Pjöngjang sogar ein ganzer Skulpturenpark gewidmet ist. Eine Empfehlung der Musenblätter.


  Foto © Oliver Wainwright

Oliver Wainwright – „Inside North Korea“
Herausgegeben von Julius Wiedemann
© 2018 TASCHEN GmbH / ©  Oliver Wainwright, 241 Seiten, gebunden21 x 27,5 cm,Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch  mit zwei (pastellfarbenen) Lesebändern  - ISBN 978-3-8365-7221-7
40,- €
 
Weitere Informationen: https://www.taschen.com/