Die Verbeugung

von Hanns Dieter Hüsch

© Jürgen Pankarz

Die Verbeugung

Ich habe ja schon frühzeitig damit begonnen
Eigentlich schon als Kind
Eigentlich schon auf dem Operationstisch
Und zwar ohne direkte Aufforderung
Das Verbeugen zu üben
Ich habe mich schon als Kind
Bewußt vor allen möglichen und unmöglichen
Personen der Neuzeit verneigt
Gleich welchen Ranges
Gleich welcher Religion
Und gleich welchen Alters oder Geschlechtes
Ich habe auch nie lange überlegt
Ob ich mich nur bei diesem verbeugen soll
Und bei jenem nicht
Ich habe mich immer vor jenem
Ebenso verneigt wie vor diesem
Es ist für mich nie eine Frage gewesen
Mich vor Schnecken und Regenwürmern
Restlos zu verbeugen
Bei alten Bäumen und ebenso bei jungen Müttern
Habe ich jeweils eine besondere Verbeugung gemacht
Nämlich die
Die der romanischen Höflichkeitskultur
Zuzuschreiben ist
Das ist die
Bei der man den rechten Arm
Leicht durch die Luft gehen läßt
Im Gegensatz zu der
Die der germanischen Gerechtigkeitskultur entspringt
Nämlich die
Die man als altdeutschen Diener bezeichnet
Der altdeutsche Diener läßt vielleicht an Gradlinigkeit
Nichts zu wünschen übrig
Ist aber ein eingetrichterter Diener
Ein Diener der jahrelang eingetrichtert wird
Von oben herab eingetrichtert wird
Der überhaupt zu nichts führt
Ein gefährlicher Diener

Ich habe mich schon im Mutterleib
Zur romanischen Höflichkeitsverneigung
Hingezogen gefühlt
Die
Wie schon gesagt
Bei der man den rechten Arm leicht
Durch die Luft gehen läßt

Während der altdeutsche Diener
Den der germanische Gerechtigkeitsmensch pflegt
Nur ein kalter korrekter Hutabnehmerzwang ist
Ist die romanische Höflichkeitsverbeugung
Eine artistisch-philosophische Art und Weise
Eine Mischung aus Religion Ironie Musik und Elend
Also geeignet
Jedwedem Gegenüber eine platonische Freundschaft anzubieten

Während die germanische Hutabnehmergesellschaft
Die eine durch und durch kopflose Gesellschaft ist
Sich nichts mehr zu sagen hat
Und sich auch nichts mehr sagen lassen will
Und es bei einem schnellen sauberen Diener beläßt
Gibt der romanische Höflichkeitsmensch
Allen Formen und Gesten bis hin zum dialogischen Tanz
Freies Geleit

Gebildete Personen der Neuzeit
Halten diesen dialogischen Tanz
Zwar für unecht falsch und verwahrlost
Wahrend sie den sauberen Diener
Für echt richtig und diszipliniert betrachten

Während sie den sauberen Diener
Für ehrlich geradeaus und offen halten
Halten sie den romanisch-lateinischen Höflichkeitsgestus
Für verlogen krumm und heuchlerisch
Aber das Gegenteil ist der Fall

Der germanische Gerechtigkeitsfanatiker hat zum Beispiel das
Kopfabschlagen sanktioniert
Während der romanische Höflichkeitsartist
Den Kopf bis zum Erdboden senkt
Aber dadurch den Kopf oben behält
Und überlebt

Der germanische Gerechtigkeitsradikalist
Hat das Wort Säuberung erfunden
Während der romanische Höflichkeitsspieler
Den Dreck der Welt auf sich nimmt

Während der germanische Gerechtigkeitsprogammatiker
Weltanschauungssüchtig ist
Ist der romanische Höflichkeitsrelativist
Menschen- und lebenstüchtig

Ist der germanische Gerechtigkeitsmaschinist
An Rohheit und sogenanntem Durchsetzungsvermögen
Nicht zu übertreffen
Ist der romanische Höflichkeitssünder
An Schwäche und Demut nicht zu überbieten

Das Gefährliche ist aber
Daß das alles
Den meisten gebildeten Personen der Neuzeit
Nicht verständlich zu machen ist

Während der germanische Gerechtigkeitsbesitzer
Ein Hab und Gut auf das andere Hab und Gut türmt
Hat der romanische Höflichkeitshabenichts
Seinen Reichtum in Leib und Seele eingebettet
Wenngleich er auch oft
Nicht wenig von einer lateinisch-metaphysischen
Schlitzohrigkeit befallen ist
Wie eine antike Krankheit
Ein stoisches Karussell

Während der germanische Gerechtigkeitsmensch
Nicht daran denkt sich zu verneigen
Und wenn dann aus krankhaftem Gehorsam
Verneigen wir romanischen Höflichkeitskinder
Uns selbstbewußt und selbstironisch
Denn wir sind Phantasten des Herrn
Und bedanken uns
Für die wenigen Stunden in dieser Neuzeit
In denen wir uns haben formulieren dürfen
In denen wir spielerisch haben existieren dürfen
Für die wenigen Stunden
In denen wir unsere Pflichten haben erfüllen dürfen
Und in denen wir durch allzu tiefe Verbeugungen
Unsere Rechte haben vergessen dürfen
Für die wenigen Stunden in dieser Neuzeit
In denen wir unsere Schwächen
Zu einem Kunststück machen dürfen.
 
Hanns Dieter Hüsch
 


© Chris Rasche Hüsch
Veröffentlichung aus „Zugabe" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Die Zeichnung stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.