Alles andere als ein Lustspiel

Annie Ernaux – „Erinnerung eines Mädchens“

von Johannes Vesper

Alles andere als ein Lustspiel.
 
Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens
 
Von Johannes Vesper
 
Das Verhältnis zwischen Frau und Mann ist seit Adam und Eva problematisch. Schon bei Kleist geht Dorfrichter Adam der Eve an die Wäsche, leugnet dies, so gut er kann, wird aber durchschaut und Eve verfällt über diese Männer ins Grübeln. Diese berühmte, gut 200 Jahre alte literarische Auseinandersetzung mit sexueller Belästigung wurde vom Autor als Lustspiel in die Theater gebracht. Jetzt legt die inzwischen 77jährige Annie Ernaux mit ihrem autobiographischen Roman ihre eigene Geschichte vor- kein Lustspiel. Eigentlich wollte sie das alles verdrängen, wollte das 18jährige Mädchen, sich selbst, ihre Lust, ihren Wahn, ihre Idiotie, ihren Hunger, ihre Amenorrhöe und ihre Eßstörung vergessen, schreibt aber dann Jahrzehnte später darüber, wie sie, das behütete Einzelkind, die Klassenbeste, die noch nie eine Party besucht, geschweige denn rum geknutscht hat, zum ersten  Mal ihr kleinbürgerliches Elternhaus verlässt - und was ihr dann passiert.
 
Sie schildert das ehemalige Kloster, in welchem eine Freizeit stattfindet, versucht sich an jenen Sommer zu erinnern, schreibt über dieses Mädchen, welches sie selber ist und sich als jüngste Betreuerin in einem Sommerferienlager dem brutalen Drängen ihres Vorgesetzten, seiner wilden, brutalen, dreckigen und brutalen Männlichkeit unterwirft und sich ihm hingibt. Sie schickte ihn nicht weg und floh auch nicht, nein, sie fügte sich in die Situation, die sie nie für möglich gehalten hatte, deren Herr ihr Betreuerkollege war und glaubte am Ende sogar, sich in dieses Scheusal abgöttisch verliebt zu haben. Sie selbst suchte in dieser Begegnung keine eigene Befriedigung, sondern wollte die seine. Als erfolgreiche Autorin, die sich emotional und gedanklich weit von ihrem Elternhaus in der Provinz entfernt hat, sucht sie ihre Lebenswurzeln und versucht, die 18 jährige in den 50er  Jahren, ihre Unsicherheit und ihre Ängste zu verstehen, sich selbst zu begreifen. Sie stellt fest, daß sie sich damals in ihrer Zukunft geirrt hat, aber lange brauchte, sich das einzugestehen. Sie wollte sich durch Lachen und Tanzen vom stets aufpassenden Blick der kleinbürgerlichen Mutter befreien. Die Unterwerfung unter die männliche Sexualdominanz und das sich sofort anschließende Desinteresse an der Mißbrauchten führte bei ihr zu beliebigem Sexualverkehr mit vielen und zu entsetzlicher Scham über sich selbst, wenn sie einerseits betrunken und erbrechend zur Toilette taumelt andererseits einen ungeheuren Drang zu Männerhaut, -händen und -körpern, zu „tröstlichen Erektionen“ verspürt. Waren zu dieser Zeit Mißbrauch und Vergewaltigung normal? Eine Anklage gegen die Männer von damals findet sich nicht. Die hatten als Soldaten im Algerienkrieg eigene Probleme und litten unter Samenstau. Und hat die erste Penetration nicht immer etwas von einer Vergewaltigung? Ihre sogenannten Schulfreundinnen und Kolleginnen im Sommerferienlager schildert sie als zynische Gänse, die sich über ihren nicht abgesandten, am schwarzen Brett der Einrichtung öffentlich gemachten Liebesbrief lustig machen.
 
Die Autorin sucht ihre Jugend, liest alte Briefe und kann sich unter Lupenbetrachtung alter Schwarz/Weiß-Fotos ihre Jugendjahre wieder vergegenwärtigen, erinnert sich an Gesichter und Situationen. Warum schreibt sie überhaupt? In ihrem Interview mit Iris Radisch am 15.10.18 in der Zeit sagt sie dazu, man habe sich innerhalb ihrer Familie nichts mehr zu sagen gehabt. „Sie wolle den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt“. Mit diesem Bekenntnis endet der Roman. Stilistisch schreibt sie kühle, klare Texte, eher Berichte ohne sprachliche Extravaganzen oder Schnörkeleien, „verweigert sich der schönen französischen Literatursprache“. Sie sei von Camus stark beeindruckt, habe sich selbst mit diesem Roman zu einer literarischen Figur gemacht, und frage sich, wie weit man mit Aufschreiben die Wirklichkeit überhaupt erfassen kann. Sie versucht mit dem, was „zwischen den Falten der Erzählung zum Vorschein kommt“, das Leben, wie es sich abgespielt hat, zu ertragen. Sie zitiert Nietzsche (Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen) wie den kürzlich verstorbenen Charles Aznavour, nach dem „nicht zählt was passiert, sondern das, was man aus dem, was passiert, macht“. Inzwischen ist die 18jährige aus den 50er Jahren eine berühmte Autorin, vielleicht die wichtigste der französischen Gegenwartsliteratur, die mit ihren Romanen aus dem Kleinbürgertum Frankreich provoziert. Der vielschichtige Roman zeigt, wie gewagt und unsicher unser Leben ablaufen kann, was sexuelle Gewalt dem Menschen antut und wie sie verletzt. Alles andere als ein Lustspiel.
 
Annie Ernaux – „Erinnerung eines Mädchens“
Roman - Aus dem Französischen von Sonja Finck
© 2018 Suhrkamp 1. Auflage der deutschen Ausgabe (die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Mémoire de fille bei Editions Gallimard Paris), 164 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-518-42792-7
20.-€
Weitere Informationen:  www.suhrkamp.de