Schwelgen in den Sagen der Antike

Gérard Denizeau – „Klassische Mythen in Bildern erzählt“

von Robert Sernatini

Titel: Tiepolo, Apollon verfolgt Daphne
Schwelgen in den Mythen der Antike
 
…und der Schönheit der Frauen
 
Wo die meist mündliche Überlieferung von Mythen und Sagen des klassischen Altertums mangels bildlicher Darstellungen einen unendlich weiten Raum für Phantasie und Bilder im Kopf läßt, sind seit jeher sehr gerne Künstler eingesprungen, um den phantastischen Geschichten um Götter und Helden, Monster und Feen je nach Zeitgeschmack ihren Stempel aufzudrücken. Der Wunsch, das Numinose, das Schreckliche, das Erhabene, vor allem aber das Drama und das Schöne zu illustrieren, zieht sich vor allem seit dem 15. Jahrhundert, mit einer Blüte im 19. Jahrhundert, durch die Kunstgeschichte Europas. Gérard Denizeau hat in seinem Buch „Klassische Mythen in Bildern erzählt“ 42 Beispiele ausgesucht und untersucht.
Alle 42 Gemälde werden kompetent beschrieben und kunsthistorisch verortet. Die Angabe der antiken Quelle und die Zusammenfassung des dargestellten Mythos rufen dessen Bedeutung in Erinnerung. Markante Ausschnitte und (kunst-)historische wie mythologische und literarische Hintergrundinformationen erschließen bemerkenswerte Details der Motive.
 
Tizian (d.i. Tiziano Vecellio) malte 1549 die endlosen Qualen des Sisyphos, Veronese (d.i. Paolo Caliari) 1585 den Fellatio-Kuß Ledas mit dem als Schwan erschienenen Zeus, John William Waterhouse ließ den erotischen Glanz der verführerische Zauberin Kirke (1891) und den der mit dem Faß ohne Boden für ihre Gattenmorde bestraften Danaiden (1902) aufleuchten. Eugène Delacroix zeigte die barbusige rasende Medea, die ihre Söhne Mermeros und Phedes umbringt (1838), Pieter Brueghel den seiner Hybis geschuldeten Sturz des Ikarus als unbedeutende, wenn auch im Bildtitel erwähnte, beinahe komische Marginalie (1558), und Francisco de Goya läßt kein blutiges Detail des grausigen Saturn aus, der wie irrsinnig seine Kinder verschlingt (1823). Die ganze Grausamkeit göttlicher Strafen zeigt auch Gustave Moreaus „Prometheus“ (1868), das den an den Felsen Geschmiedeten zeigt, hilflos, wenn auch stolz dem widerlichen Aasgeier ausgeliefert, der von seiner Leber frißt.


 
Gérard Denizeau hat auch eines der ebenso rätselhaftesten wie schönsten Bilder der jüngeren Kunstgeschichte, Arnold Böcklins durch seine düstere Melancholie faszinierendes „Die Toteninsel“ (1886) in den Blick genommen. Er führt die Bildmotive auf die Odyssee Homers zurück und widerlegt die Hypothes, es handele sich um eine Verklärung der venezianischen Friedhofsinsel San Michele. Er widerlegt anhand der Bildanalyse von Franz von Stucks „Verwundete Amazone“ (1905) auch die Legende, die sagenhaften Amazonen-Kriegerinnen hätten sich die rechte Brust abgetrennt, um unbehindert mit dem Bogen schießen zu können. Franz von Stuck zeigt freizügig die heilen und wohlgeformten Brüste der verletzten nackten Kämpferin.
Überhaupt: Die Nacktheit der mythischen Helden und besonders allenthalben der weiblichen Figuren in dieser Form der Historienmalerei fällt – nicht unbedingt unangenehm – auf, als habe sich hier ein Ventil für das optische Ausleben der Sinnenlust geöffnet. Boucher und Botticelli, Raphael und Tizian, Waterhouse, Delacroix und David, Cousin, Girodet-Trioson und Veronese, Deutsch, Gleyre und Chassériau, Stuck, Botticelli, Redon und Tizian  schwelgen neben vielen anderen in der Schönheit und erotischen Anziehung des weiblichen und gelegentlich auch des männlichen Aktes. Tizians „Flora“ (1515) aus der römischen Mythologie stellt dabei die Schönheit der Mona Lisa Leonardo da Vincis (ca. 1503) weit in den Schatten.

 

Von der Schöpfung der Welt bis zu den Irrfahrten des Odysseus reicht die Chronik der Ereignisse, welche immer wieder neu von herausragenden Künstlern gestaltet wurden – und von altrömischen Mosaiken der Entführung der Europa bis zu Pablo Picassos Minotaurus (1936) die Auswahl, die Gérard Denizeau in seinem köstlichen Buch vorführt. Das ist Schmökerstoff ohne Ende, der Anreiz zum Vertiefen gibt (Literaturquellen sind angegeben) und der einfach nur Freude macht. „Klassische Mythen in Bildern erzählt“ ist ein kostbarer Schatz, der unsere Auszeichnung, den Musenkuß verdient und den ich unseren Lesern sehr empfehle.
 
Gérard Denizeau – „Klassische Mythen in Bildern erzählt“
Meisterwerke der Malerei von Goya bis Picasso
Aus dem Franz. von Jan Beaufort und Madeleine Kaiser
 
© 2018 Ver­lag wbg Theiss, 223 Seiten, gebunden, 23 x 28 cm, 120 farbige Illustrationen, Register - ISBN 978-3-8062-3749-8
49,95 € (39,96 € für Mitglieder der WBG)


 
Weitere Informationen: https://www.wbg-wissenverbindet.de