Ist der Daumen ein Finger?

Sprachlicher Befund und Brauchtum

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Ist der Daumen ein Finger?
 
Sprachlicher Befund und Brauchtum
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Ein alter Vexiervers für Kinder funktioniert nur, wenn man ihn mit einer bestimmten Pausenversetzung spricht:
                        „Zehn Finger hab ich an jeder Hand -
                        Fünfundzwanzig an Händen und Füßen.“
 
Auflösung:
                        „Zehn Finger hab ich - an jeder Hand fünf -
                        Und zwanzig an Händen und Füßen.“
 
Es fällt auf, daß hier beide Daumen ohne weiteres und unterschiedslos zu den Fingern gezählt werden.
 
Ganz anders verfährt ein weiteres kindliches Fingerspiel:
 
                        „Das ist der Daumen.
                        Der schüttelt die Pflaumen,
                        Der hebt sie auf,
                        Der trägt sie nach Haus,
                        Und der Kleine ißt sie alle auf.“
 
Hier steht der Daumen deutlich außerhalb der Fingerreihung einer Hand. Das entspricht der Beobachtung seiner Sonderrolle im Ensemble der Gliedmaßen: Er ist nicht nur der dickste, sondern mit lediglich zwei Fingergliedknochen auch kürzer als alle einzelnen Finger mit ihren drei Gliedern. Physikalisch ist er dazu prädestiniert, den Fingern einer Hand gegenüber zu stehen und im Zusammenspiel mit diesen ein festes Zugreifen zu ermöglichen. Seine Sonderrolle wird auch durch den sprachlichen Befund verdeutlicht:
 
                                    Daumen                                 Finger
 
                          altgriechisch αντίχείρ                      δακτυλοσ
                          lateinisch pollex                              digitus
                          französich pouce                            doigt
                          althochdeutsch dûmo                     fingar
 
Man hat demnach zwischen Daumen und Fingern im Grunde keinen Zusammenhang gesehen und für sie deshalb keine etymologisch verwandten Bezeichnungen gesucht. Der Daumen spielt dabei eindeutig eine Sonderrolle. In der Sprachentwicklung wurden die Finger schon in germanischer Zeit durch zusammengesetzte Bezeichnungen benannt, während der Daumen, „aus altem selbständigem Wortstamm gebildet“ ist; „darum ergibt sich Daumen als uralt“ und heißt „also eigentlich 'der starke' (Finger)“ (Kluges Etymologisches Wörterbuch). Er wird im Altgriechischen als die Gegenhand bezeichnet, das heißt, er allein wiegt die Bedeutung der vier übrigen Finger auf.
 
Als Franz Kafka 1908 seine Arbeit in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt aufnahm, verwunderte er sich zu Beginn seiner Tätigkeit, daß der Verlust eines Daumens mit einem höheren Versicherungsbonus bedacht wurde als die Finger einzeln oder insgesamt. Der Daumen gehörte also nicht in die Reihe der Finger. Das haben auch manche europäische Reisende bei ihrem ersten Aufenthalt in den USA erfahren müssen, wenn sie etwa am Postschalter drei Briefmarken erstehen wollten und zur Verdeutlichung den Daumen, den Zeige- und Mittelfinger in die Höhe hoben – sie bekamen dann in der Regel nur zwei Marken, weil man in den USA den Daumen nicht zu den Zählfingern rechnet, und Amerikaner demnach zur gestischen Unterstützung ihrer Bitte Zeige-, Mittel- und Ringfinger heben. Die Amerikaner stehen damit in einer bemerkenswerten Tradition zu den alten Römern, die gestische Zählungen mit dem kleinen Finger begannen; bei der Zahl Vier war der Zeigefinger erreicht, den Sprung zur Fünf markierte der abgespreizte Daumen, so daß sich als Ziffernbild ein „V“ ergab: „V“ = Fünf.
 
In der altdeutschen Literatur wird es nicht ganz klar, ob man den Daumen zu den Fingern zählte. Im Schöpfungsbericht der „Wiener Genesis“ (Ende des 11. Jahrhunderts) heißt es, Gott habe den Menschen mit zwei wohlgebildeten Händen erschaffen,
 
            „an den sint forne fünf finger; der grozeste unter in, der nutzeste,
           daz ist der dume,“
 
denn ohne ihn vermögen die andern Finger nichts Nennenswertes zu leisten, ob sie nun Zeige-, Mittel- oder Ringfinger heißen. Lediglich der kleine Finger kann seine Sonderrolle ohne den Daumen spielen, denn er fungiert als ein Vorläufer des Ohrlöffels, der die Gehörgänge säubert: „sos wirt not, daz er in das ore grubilot.“
 
Obwohl zunächst ohne weiteres zu den fünf Fingern gezählt, hat der Daumen doch erkennbar eine Sonderstellung inne.
 
Überdeutlich wird die herausgehobene Bedeutung des Daumens im europäischen Volksmärchen, wo er häufig als selbständige Person begegnet, wie etwa in den Grimm'schen Märchen „Daumesdick“, „Des Schneiders Däumeling Wanderfahrt“ oder „Der junge Riese“ (der zunächst so „groß wie ein Daumen“ war). Hier erweist er sich trotz seiner winzigen Erscheinung innerhalb der Menschenwelt in vielen Belangen als überlegen.
 
Walther von der Vogelweide, der größte deutschsprachige Lyriker des Mittelalters, hat sich das Unentschieden, ob der Daumen zu den Fingern zu rechnen sei oder nicht, um das Jahr 1200 als Vorwurf zur Schlußpointe eines seiner bekanntesten Gedichte gewählt: „Dô der sumer komen was.“ Das Lyrische Ich erzählt von einem wunderbaren Traum auf der sommerlichen Wiese, in dem Leib und Seele in vollkommener Harmonie und Freude ewig zusammenlebten. Der Schrei einer Krähe weckt den Schläfer unsanft auf; sein Versuch, den störenden Vogel mit einem Stein zu töten, mißlingt, aber eine uralte Frau verspricht dem Unglücklichen, sie werde seinen Traum deuten: „Nû hât sie mir bescheiden, waz der troum bediute.“ Daß sie vernünftig rede, beweist sie mit der simplen Formel, daß Drei die Summe von Zwei und Eins sei. Ebenso gewiß sei es auch, „daz mîn dûme ein vinger sî.“ Das eben aber bleibt Jahrhunderte hindurch ungewiß, das heißt, eine treffende Ausdeutung des Sommertraums ist so unmöglich wie Lösung dieser Frage.
 
Gut einhundert Jahre nach Walther benutzt der seinerzeit hochberühmte Hugo von Trimberg in seinem „Renner“ das Bild auf seine Weise:
 
                        „Sprichet aber einer, vinger sî dûme,
                        Der sache wird verrichtet kûme;
                        Sprichet er aber, dûme sî vinger,
                        Sô wirt sîn sache vil geringer.“
 
Eine kleine Satire auf Rechts- und Gerichtskniffe. Sagt einer in seiner Prozeßsache eine Behauptung wie alle 'Finger' seien 'Daumen', so hat er wenig Chancen; sagt er aber wie die Alte bei Walther, der Daumen sei ein Finger, so steht es um seine Sache schon besser.
 
Bis in die Zeit der Renaissance hinein, schwelt der Streit über das Verhältnis von Daumen und Finger weiter:
 
                        „Ich bin auch der Zehen einer, es fäl mir dann der Daumen“
                        (ich gehöre auch zu den zehn Fingern, wenn mir kein Daumen fehlt).
 
heißt es etwas rätselhaft in der berühmten „Geschichtklitterung“ (Kap. 21) des Johann Fischart.
 
Ist der Daumen ein Finger? Die Volksliteratur ist an keiner genaueren Antwort interessiert: Das auf Friedhöfen wachsende Fünffingerkraut (wegen seiner fünfzackigen Laubblätter so benannt) bedeutet im Volksglauben die aus dem Grab gewachsene Hand eines unselig Verstorbenen, und in den neuzeitlichen Schreibstuben ist bis heute das Zehnfingersystem ein Begriff für das Bedienen der Computertasten, obwohl der Daumen auch hier seine besondere Rolle spielt: Er ist für keine Buchstaben, sondern nur für die Leertaste zuständig. Aber so genau nimmt man es heute bei neueren Bezeichnungen und Begriffen nicht mehr.
 

© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2019