Wie die Welt von Innen ihre Form erhält

Im Inneren der Atome (2)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Von Ernst Peter Fischer
 

Im Inneren der Atome (2)
 
Zurück zu der romantischen Geschichte, die von einem neugierigen Forscher in Gestalt eines Jünglings erzählt, der nach Sais kommt, um das geheime Wissen zu erlangen und unter den Schleier zu schauen. Auf die Frage „Was sah er?“, der mutige Vertreter auf der Suche nach Aufklärung, antwortet der Romantiker Novalis mit einer überraschenden Wendung, denn „er sah – Wunder des Wunders – sich selbst.“ Und tatsächlich – der Wanderer Heisenberg trifft am Ende seines nächtlichen Weges ins Innere des Atoms dort keine Dinge – und erst recht keine winzige Außenwelt – mehr an. Er findet zuletzt nur noch die Formen – genauer die mathematischen Formen –, die von und aus ihm selbst stammen, und mit ihnen versteht er die Welt und wir im Anschluss daran mit Heisenbergs Hilfe.
     Übrigens – die von ihm benötigte Mathematik muß auf imaginäre Zahlen und Dimensionen zurückgreifen, die es nur im Kopf der Menschen, nicht aber in der Welt vor ihren Augen gibt, die sich Wirklichkeit nennt. Die rätselhafte Realität, die Goethe das Innerste der Welt nannte, kann nur mit Größen beschrieben werden, die über diese Wirklichkeit hinausgehen und sie also transzendieren, wie man mit einem bedeutungsvoll klingenden Wort sagen könnte. Auf diese Weise zeigt sich auch Außenstehenden unübersehbar, daß die Atome der Wissenschaft eine Erfindung des menschlichen Geistes sind. Sie verfügen nur über das (imaginäre) Aussehen, das Menschen ihnen (mit ihrer Imagination) geben. Man versteht Atome und das Innere der Dinge durch die Form, die ihnen von einem kreativen Menschen gegeben wurde, der bei seinem Aufbruch ins Innere plötzlich spürte, daß ihm „keine Freiheit mehr blieb“, wie Heisenberg in seiner Autobiographie berichtet hat. Da Kunst nicht von Können, sondern von Müssen kommt, wie Arnold Schönberg meint, kann man sagen, daß die Theorie des Atoms im Modell der Kunst zustande kommt, was sie dann auch ästhetischen Kriterien zugänglich macht und also Menschen entzücken kann.
     So gesehen ist es kein Wunder, wenn Heisenberg in seiner Autobiographie von einer merkwürdigen „inneren Schönheit“ spricht, die sich dem wissenschaftlichen Wanderer nach dem Lüften des Schleiers über dem Zentrum der Atome offenbarte. Da diese Schönheit einen mathematischen Charakter hat, wie es sich im antiken Griechenland der Philosoph Platon vorzustellen pflegte, als er die Dinge von innen heraus durch geometrische Gebilde zusammengesetzt dachte, muß man Goethes legendäre Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, auch in dieser Sprache beantworten, auch wenn sich den meisten seiner Leser nun die Nackenhaare sträuben. Aber wer Goethes Wunsch ernst nimmt, sollte wenigstens hinhören, wenn die theoretische Physik dazu ihre Auskunft gibt, wobei zur Beruhigung hinzugefügt wird, daß man nicht jedes einzelne Wort verstehen muß, um das Prinzip erfassen und sich eine Vorstellung machen zu können. Aber jedes Wort versteht man auch im „Faust“ oder in vielen philosophischen Werken etwa der Aufklärung oder der Romantik nicht.
     In der Physik des 21. Jahrhunderts gelten die Bausteine in den Atomkernen längst aus eigenwilligen kleineren Gebilden (den bekannten „Quarks“) zusammengefügt, die mittels merkwürdiger virtueller Teilchen (den weniger vertrauten „Gluonen“) zu einem Brei verklebt sind, den die Experten fast anschaulich mit dem Namen Plasma bezeichnen, der vielen vom Protoplasma her vertraut ist, mit dem Biologen den klebrigen Saft in Zellen bezeichnen. Würde man Faust mit diesen modernen Vorgaben und in aller Kürze und Strenge auf seine Frage nach dem Innersten der Welt die Auskunft geben, daß es im atomaren Zentrum der materiellen Dinge ein energiereiches Plasma aus Quarks und Gluonen – voller „Wirkenskraft“ – gibt, hätte man einen Teil der Antwort unterschlagen, denn das physikalische Plasma selbst ist es nicht, das alles zusammenhält. Dafür und für die gemeinsamen Auswirkungen sind schlicht und einfach die Lösungen für die Gleichungen zuständig, die das Quark-Gluonen-Plasma und seine Existenzmöglichkeiten beschreiben. Wenn deren Geometrie ausreichend schön ist, hätte Platon die Antwort wahrscheinlich gefallen, aber sicher ist das nicht.
     Unabhängig davon ist es keine Frage, daß Menschen ohne Faible für Mathematik jetzt ratlos im Regen stehen. Die moderne Antwort zeigt aber trotz aller Schwierigkeiten zugleich, daß die im Titel dieses Aufsatzes genutzte Formulierung für Goethes Frage angemessener ist. Denn die relevanten Gleichungen müssen immer wieder angeordnet und gelöst werden, ohne selbst das zu sein, was Goethes Faust erkennen will. Ihn quält doch die Frage, welche Wirkungskraft hier ihre Formbildung ausübt, welches Potential aus der Mitte der Atome zum Samen der Welt wird und die Vielfalt erblühen läßt, die den Menschen so gefällt, und die Lösungen der Gleichungen für das Quark-Gluonen-Plasma liefern genau das, nämlich die Möglichkeit, aus dem Wechselspiel von Quarks und Gluonen die Teilchen hervorzulocken, aus denen dann die Atome werden. Diese Unteilbaren weisen vor allem eine Qualität auf, nämlich die einer Gestalt, deren Dauerhaftigkeit nicht mechanisch und statisch, sondern morphologisch und dynamisch erklärt werden muß. „Man kann die Stabilität der Atome nur verstehen, wenn man annimmt, daß immer wieder dieselben symmetrischen Gestalten der kleinsten Teile aus physikalischen Prozessen hervorgehen“, wie Werner Heisenberg einmal geschrieben hat. Wer etwas Großes wie die Welt und ihre Stabilität erkennen will, muß manchmal klein anfangen, zum Beispiel mit einem Plasma und seiner konstruktiven Energie im Inneren der Atome.
 
 
© 2018 Ernst Peter Fischer