„Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden...“

„Kunst“ von Yasmina Reza

von Frank Becker

Du hast wirklich ein weißes Bild für 200.000,- € gekauft? - v.l.: Andreas Möckel, Thomas Braus, Sven Lindig - Foto © Sarah Nagelschmidt

„Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden...“
 
Wuppertaler Bühnen - „Kunst“ von Yasmina Reza in der Kirche in der City
 
Als Thomas Braus (Marc), Sven Lindig (Serge) und Andreas Möckel (Yvan) a capella als Nachgesang Franz Schuberts op.88 Nr. 4 „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden...“ intonierten, fand eine Komödie, nein, ein Drama seinen versöhnlichen Abschluß, das sich gegen Ende virtuos auf dem schmalen Grat zwischen Tragikomödie und Vandalismus der Seele bewegt hatte. Ausgesprochen aufregend. Nehmen wir es als läßlich hin, daß der Librettist Franz Schober den Text 1817 eigentlich der Musik gewidmet hatte – er paßt einfach zu gut.
 
Paris. Serge, ein arrivierter Dermatologe, introvertiert, kauft bei einem Kunsthändler für 200.000,- € ein monochromes weißes Bild, einen späteren Antrios, 160 auf 120 Zentimeter. Sven Lindig gibt diesen in sich gekehrten, von Selbstzweifeln angegriffenen Schöngeist brillant. Seinem Freund Marc, cholerisch, hypochondrisch, zeigt er es als erstem. Schon diese Eingangs-Szene, die wie ein Gottesdienst zelebrierte Enthüllung des weißen Nichts vor den Augen des fassungslosen Marc (Thomas Braus – eine Offenbarung), ist ein hinreißend komödiantischer Moment, von Braus und Lindig urkomisch, aber auch ausgesprochen differenziert vermittelt. Es sollte in der restlos ausverkauften Kirche in der City, die sich in ihrem neuen schlichten Weiß als der Spielort schlechthin erwies, bis zum guten Ende so bleiben.
Yasmina Rezas Kammerspiel um die Freundschaft dreier gegensätzlicher Männer, die von unterschwellig längst gewachsener Entfremdung und gegenseitigen Vorurteilen angenagt ist, lebt im intelligenten Buch von Wortwitz, der Zeichnung gewachsener Charaktere und brillanter Psychologie. In der Umsetzung nutzte Gerd Leo Kuck, Finanzmittel sparend Intendant, Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion sein bewährtes Konzept, mit dem er schon in Zürich erfolgreich war. Die Wahl seiner Protagonisten bescheinigt Kuck eine glückliche Hand. Der ängstliche, weinerliche, auf Ausgleich bedachte Dritte im Bunde ist Plappermaul Yvan, der stets versucht, allen gefällig zu sein: „Ja wenn es ihm Spaß macht...“. Andreas Möckel gibt diesen vom Leben gebeutelten Klassenclown ungeheuer liebenswert. Jeder der drei zieht während der eindreiviertel Stunden (ohne Pause) mit bissigem Humor alle Register schauspielerischer Freude, ohne je nachzulassen.
 
An dem Bild entzündet sich in ausgefeilten Mono-, Dia- und Trialogen und ständig wechselnden Allianzen der drei Männer ein Prozess gegenseitiger Demaskierung bis an die Grenze unerträglicher Bloßstellung, eine Abrechnung. Jeder läßt heraus, was ihm schon lange auf der Seele liegt, ihm den Freund oder dessen Welt mit den Jahren unerträglich gemacht hat. Ein minutenlanges stummes Olivenessen hält einen quälenden Schwebezustand, der sich beim Publikum durch Marcs Bemerkung „...wegen einer weiß lackierten Sperrholzplatte – einer weißen Scheiße...“ mit Gelächter löst – tatsächlich aber erreicht die Dramatik einen neuen, Gänsehaut erzeugenden Höhepunkt. In einem zerstörerischen Befreiungsakt ergreift Marc einen ihm von Serge angebotenen Filzstift...
Hier die raffinierte Auflösung des psychologischen Kraftaktes aufzudröseln, wäre wie das Türchen mit der 24 am Adventskalender schon jetzt öffnen. Nächste Aufführungen in der Kirche in der City am 6., 13. und 31. Dezember. Unbedingt empfehlenswert.
 
Frank Becker, 1.12.2002