Geh aus, mein Herz, und suche Freud…

Karl Otto Mühl – „Danke für die Ermunterung!“

von Frank Becker

Umschlagfoto: Privat
Geh aus, mein Herz, und suche Freud…
 
Vorhin, beim Essen, sagte ich: „Du siehst so angestrengt aus.
Hast du etwa wieder mit dem Denken angefangen?“
„Ja“, antwortete sie, „habe ich. Ab und zu muß man da durch.“
 
Eines Tages fand sich Elisabeth Friebel in schon hohem Alter inmitten von Familientrubel bei ihrer Tochter wieder, die Ärztin, Psychiaterin und Psychotherapeutin geworden war, bei einem Schwiegersohn, der Bücher schrieb und dessen Theaterstücke aufgeführt wurden und drei zauberhaften Enkeltöchtern. Wer je im Mühl´schen Hause verkehrte, hatte das Vergnügen, Elisabeth Friebel kennenzulernen, denn sie war von da an immer dabei, bei Besuchen und Geburtstagen, am Essens- oder Kaffeetisch. Sie hat aufmerksam registriert, was um sie herum geschah, aber nie gesagt, was sie wünscht, was sie fühlt, was sie fürchtet, was sie hofft. Und doch war ihre Persönlichkeit für alle spürbar, greifbar.
Das besonders Bemerkenswerte an ihrer Geschichte ist, daß diese alte Dame liebevoll und ohne Vorbehalte von der inklusiver Haushälterin großen Familie aufgenommen, behütet und umsorgt wurde. Ein Privileg, das im Gegensatz zur weit zurückliegenden Vergangenheit heute nicht mehr vielen alten Menschen zuteil wird.
Karl Otto Mühl erzählt in diesem Westentaschen-Buch vom Zusammenleben mit dieser starken Person und den knappen Gesprächen, die oft nicht weiter als ein markantes Rede- und Gegenrede-Spiel, der Austausch weniger, oft von sprühendem Witz gezeichneter  Worte waren, denn er hat die Geschichten und Anekdoten über Jahre aufgezeichnet.
 
›Heute Vormittag saß sie zuerst draußen in der Sonne, dann wurde sie ins Wohnzimmer geführt. „Laß uns singen, Elisabeth“, sage ich und beginne:
 „Geh aus, mein Herz, und suche Freud
in dieser schönen Sommerzeit…“.
Bei der zweiten Zeile fällt Oma ein und wir singen gemeinsam die Strophe zu Ende. Danach blickt sie mich begeistert an.
„Langsam kommt alles wieder“, sagt sie.‹

Kurz vor ihrem 106. Geburtstag ist Elisabeth Friebel im Kreis der Familie friedlich gestorben. Das Büchlein ist mehr als nur eine Erinnerung an sie, es ist ein Dokument über den Lohn eines Lebens und die keineswegs verklärte Weisheit und Würde des Alters.
 
„Oma, bist du noch müde?“
„Ja. Ein bißchen.“
„Im Alter ermüdet man schneller, nicht wahr? Und bleibt es länger.“
Da antwortet Oma mit diesem wegweisenden Satz: „Es ist aber auch angenehm“.
 
Karl Otto Mühl – „Danke für die Ermunterung!“
Geschichten von einer Hundertjährigen und ihrer Familie
© 2019 NordPark Verlag, 64 Seiten, Broschur - ISBN: 978-3-943940-52-7
10,- €
Weitere Informationen:  www.nordpark-verlag.de