Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Vom Atomkern zum Zellkern (2)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Von Ernst Peter Fischer
 

Vom Atomkern zum Zellkern (2)
 
Die modernen Lebenswissenschaften können inzwischen dank zahlreicher raffinierter technischer Möglichkeiten – schon wieder dieses Wort – immer genauer auf das Genmaterial im Zellkern zugreifen, das im 21. Jahrhundert vermehrt auf den Namen Genom hört und beim Menschen konkret als Humangenom bezeichnet wird. Die Reihenfolge seiner chemischen Bausteine (Basenpaare), also die Sequenzen seiner DNA Stränge, werden heute in riesigem Umfang ermittelt und in gigantischen Datenspeichern gesammelt. Das Genom fast einer jeder Zelle steht den Genetikern zur Verfügung, was die Frage aufwirft, kann die Wissenschaft damit des Pudels Kern greifen und ist sie somit im Innen des Lebens angekommen?
 
In einem Genom stecken auf jeden Fall viele Möglichkeiten, wie die aktuelle Molekularbiologie feststellen konnte, die nämlich mittels der Gentechnik bereits in den späten 1970er Jahren nachweisen konnte und verstanden hat, daß zum Beispiel Zellen des Immunsystems die Anordnung ihrer Gene, also ihre Genome, nicht einfach mit auf den Lebensweg bekommen, sondern sie erst durch mannigfaltige Umbauten anfertigen müssen, und dies geschieht, während der von ihnen zu schützende Organismus heranwächst und mit Stoffen aus der Umwelt Erfahrung macht, die ihn schädigen und seine Gesundheit gefährden können. Und was das Immunsystem kann, vermag das Gehirn noch viel besser, wie seit kurzem bekannt ist, da das Leben in den dazugehörigen Nervenzellen immer neue Kombinationen des ursprünglichen Genoms einsetzt und damit ausprobiert, welches Potential für eine Person in dem Erbgut der befruchtete Eizelle steckt, mit dem ein menschliches Wesen sein Leben beginnt. Im Kern der Eizelle, aus der ein Leben erwächst, im Innen eines neuen Lebens, befindet sich ein dynamisch wandelbares Gebilde, in dem sowohl die Möglichkeiten des Menschseins im Allgemeinen zu finden sind als auch das Potential des daraus hervorgehenden Individuums im Besonderen steckt und darauf wartet, seine Wirkung zu entfalten, wobei niemanden mehr überrascht, was das wandelbare Genom dazu braucht, nämlich wandelbare Energie in geeigneter Form. Mit ihrer Hilfe wird aus dem „Seyn“ der Gene ein erstaunliches Werden. Der Mensch ist Bewegung, von Anfang an, von innen nach außen und dort erst recht.  
 
Kenntnisse über das dynamische Genom sammeln die Lebenswissenschaftler seit den 1990er Jahren, als sie damit beginnen konnten, im Rahmen des Humanen Genomprojektes ihre eigene Großforschung zu betreiben. Es war zunächst mühsam und teuer, fällt aber inzwischen immer leichter und kostet immer weniger, die enorm umfangreiche Reihenfolge (Sequenz) der Bausteine, die das Genmaterial DNA in einer Zelle ausmachen, zu bestimmen und offen zu legen. Man spricht von der DNA Sequenz eines Menschen und kann mit ihrer Verfügbarkeit jetzt die Frage präziser stellen, ob die Wissenschaft damit den Weg zum Innen des Menschen gefunden und zurückgelegt hat.
 
Wenn sich die Antwort an den Atomen und ihrem Innenleben orientiert, würde man weniger nach einer materiellen Mitte und mehr nach einem geistigen Etwas oder einer immateriellen Idee suchen, und tatsächlich wurde diese spezielle Möglichkeit mit den allgemeinen Möglichkeiten eröffnet, von denen oben die Rede war. Genauer gesagt, in dem Genom einer menschlichen Zelle steckt ihr Humanpotential, das für sich alleine so wirkungslos bleibt wie die imaginären mathematischen Gebilde und Zahlen in Inneren der Atome. Ein isoliertes DNA Molekül, und wäre es noch so riesig, bewirkt gar nichts. Gene und Genome brauchen die Energie von Zellen, um ihr Potential Wirklichkeit werden zu lassen, wobei sich allerdings noch eine Besonderheit ereignet und zu beachten ist.
 
Zwar steckt in dem Genom der Zellen die Möglichkeit zu dem Menschen, der aus ihnen besteht. Aber die Entwicklung, die dazu gehört und in deren Verlauf es gelingt, aus einer einzelnen befruchteten Eizelle den erst sich formenden und dann erwachsenen Organismus werden zu lassen, kann ja nicht mehr oder weniger zufällig einzelnen Zellen überlassen werden, sondern benötigt eine Art steuerndes Zentrum. Wenn zum Beispiel aus dem ungeheuer dynamischen Geschehen, bei dem sich aus einer Zelle erste Strukturen bilden und ein Embryo allmählich seine Körperformen zu erkennen gibt, ein Mensch werden soll, dann muß irgendwo in dem gesamten genetischen Geschehen die Idee zu diesem Menschen mit einem dazugehörigen Exekutionsplan zu finden sein. Vielleicht kann dem Humangenom diese Rolle übertragen werden, aber nicht in Form des biochemischen Erbmaterials in einer einzelnen Zelle, sondern eher im kommunikativen Verbinden und informativen Verweben aller Genome, ohne daß man derzeit sagen könnte, was dazu in der Natur passiert und ob sie dabei gestaltbildende Felder einsetzt, wie immer wieder spekuliert wird, ohne daß jemand die dazugehörigen Signale registrieren konnte. Auf jeden Fall leuchtet der Satz ein, daß im Inneren der Zellen eines Menschen und auf diese Weise auch im Inneren des Menschen selbst die genetische Information zu finden ist, die schon vom Wort her ersichtlich macht, wie die Welt mit ihrer Hilfe von innen ihre Form erhält.
Das Reden von der Information erlaubt die Erinnerung an eine Feststellung von Hans Peter Dürr, daß am Grunde – im Innen – der lebendigen Materie sich etwas findet, „was mehr dem Geistigen ähnelt“ und von dort aus eine „echte Kreation“ zustande bringt, nämlich die „Verwandlung von Potenzialität in Realität“, wobei die lebendige Wirklichkeit natürlich den ungeheuren Formenreichtum entfaltet und zur Schau stellt, der Organismen wie Kunstwerke erscheinen läßt.   
 
Embryologen, die das ungeheuer dynamische und gestaltreiche Geschehen von biologischen Entwicklungen im Detail verfolgen, wundern sich gerne über den Drang zum Leben, der sich in den Keimzellen bemerkbar macht und sich nach der Befruchtung mit aller Macht entlädt und den Eindruck erweckt, daß er nicht aufzuhalten ist. Solch einen Drang kennen Menschen in ihrem bewußten Leben als Willen, und auf Seiten der Philosophie hat Arthur Schopenhauer solch einen Willen als Kategorie in die Lebenswelt eingeführt und diesem zielgerichteten Drang ein Wirkpotential zugeschrieben, das sich erst in der Entwicklung eines Organismus und dann in seiner weiteren Existenz zeigen und entfalten kann. Es kann nur wiederholt werden: Wie im Innen der Atome findet man auch im Innen des Lebens kein „Seyn“ und nur ein Werden, was im Übrigen für das Genom und die dazugehörenden Gene selbst zutrifft. Beide sind nicht, beide werden nur, und die genetische Leine, die dazugehört, bindet das Leben nicht außen an, sondern hält es von innen her fest.   
 
 
© 2018 Ernst Peter Fischer