„Tand ist das Gebilde von Menschenhand“

Zu Theodor Fontanes 200. Geburtstag

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Tand ist das Gebilde von Menschenhand“
 
Zu Theodor Fontanes 200. Geburtstag
 
Von Heinz Rölleke
 
Einer der bedeutendsten Schriftsteller aus der Epoche des sogenannten Poetischen Realismus ist im Lauf des Jahres 2019 heftig und meistenteils auch angemessen gewürdigt und gefeiert worden. Wenn sich die Musenblätter der Schar der Gratulanten erst relativ spät anschließen, hat das gute Gründe. Fontane soll hier mit der Vorstellung einer seiner Balladen geehrt werden, die früher einmal in aller Munde war, heute aber - wie die meisten Gedichte dieser Gattung - weithin vergessen scheint: Die Handlung dieser Ballade ist nach einer realen Begebenheit auf den 28. Dezember 1879 datiert – zwei Tage vor des Dichters 60. Geburtstag am 30. Dezember.
 
Das Datum eines ganz Europa erschütternden Unglücksfalls - vergleichbar dem 32 Jahre späteren Untergang der Titanic - mußte Fontane nicht nur wegen der zeitlichen Nähe zu seinem Geburtstag besonders berühren, sondern auch weil dieser und das Ereignis am Tay in die Zeit der bei den alten Germanen gefeierten Rauhnächte (24. Dezember bis 6. Januar) fielen.
Fontane hatte kurz vor dem Unglückstag Schottland bereist, so daß ihm der Ort des Geschehens noch ganz gegenwärtig war, als er am Jahresende in der Vossischen Zeitung Berichte über die schreckliche Katastrophe las: Es handelte sich um die 1877 fertiggestellte Eisenbahnbrücke über den Tay, den längsten Fluß Schottlands; sie wurde im Juni 1878 in Betrieb genommen. Ziemlich genau eineinhalb Jahre später befuhr der Postzug von Edinburgh (aus südlicher Richtung) abends bei heftigem Sturm die Brücke. Er sollte um 19:20 Uhr in Dundee (in nördlicher Richtung) ankommen. Als er den Scheitelpunkt der dreieinhalb Kilometer langen Gleisstrecke über dem Tay erreichte, brach das Mittelteil der Brücke zusammen. Der Zug stürzte in den Fluß und riß 75 Menschen in den Tod.
 
Fontane verfaßte seine Ballade noch unter dem akuten Eindruck der Katastrophenmeldungen, so daß sie schon am 10. Januar 1880 in der Zeitschrift „Die Gegenwart“ erscheinen konnte und sofort reüssierte; sie konnte schon bald und über hundert Jahre hindurch als allbekannt gelten.
Fontanes Ballade unter dem Titel „Die Brück' am Tay (28. Dezember 1879)“ hat das Motto „When shall we three meet again. Macbeth“. Dieses Shakespeare-Zitat wird vor den jeweiligen Dialogen der Hexen zu Beginn und noch einmal in der Schlußstrophe wörtlich wiederholt: „Wann treffen wir wieder zusamm?“ Damit ist hinter der höchst realistischen Wiedergabe des Geschehens (selbst in den Worten der drei Hexen: „um die siebente Stund“, „am Mittelpfeiler“, „ich komme … vom Süden“, „wie Splitter brach das Gebälk entzwei“, „ich nenn euch die Zahl“) eine mythische Grundierung angedeutet.
 
Wenn den Figuren eines Gedichts eingebildete oder als realistisch vorgestellte mythische Wesen begegnen, so wird man an Goethes Balladen „Der Fischer“ oder „Der Erlkönig“ erinnert. Hier verkörpern die Dämonen (einmal eine Nixe, einmal der Elfenkönig) alte Naturgewalten, die jeweils gegenüber jüngeren, rational-realistischen Positionen den Sieg davontragen: Die Katastrophen der Protagonisten (ein Fischer bzw. ein Kind) scheinen die urtümlichen Weltdeutungen zu bestätigen, gemäß derer mythische Kräfte die Natur beherrschen. So erweisen auch in Fontanes Ballade die drei Hexen ihre unberechenbare und unerwartet hereinbrechende Macht. Ein Prunkstück moderner Technik, ein offenbar vollkommen gelungenes und scheinbar unverletzliches Stück industriellen Fortschritts bietet mit seiner totalen Katastrophe ein Beispiel für die Macht der Naturkräfte, die alles menschliche Werk als „Tand“ abwerten und zerstören können. Kein Produkt des technischen Fortschritts kann vor den immer drohenden irrationalen Gefährdungen sicher sein: Die Natur kann jederzeit zurückschlagen.
 
Die Eltern des Lokführers Johnie blicken zuerst noch „in Bangen nach Süden“, ehe der Vater aus dem sich nähernden Licht des Zuges auf Sicherheit vor dem drohenden Verderben schließt; auch er scheint an den Sieg der Technik über die Naturgewalt zu glauben:
 
                        „Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum,
                        Unser Johnie kommt.“
 
Dann aber, als „wütender wurde der Winde Spiel“, müssen die „Brücknersleut“ die scheinbar allmächtige Gewalt der elementaren Naturkräfte ohnmächtig anerkennen, wie sie sich auch in der Unentgehbarkeit signalisierenden sprachlichen Form der dreifachen w-Alliteration andeutet. Vor allem mit dem Begriff „wüten“ wird die Naturgewalt anthropomorphisiert, die der trotzigen Überheblichkeit des seinerseits personifizierten Eisenbahnzugs entgegensteht:
 
                        „Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
                        Ich, der Edinburger Zug.“
 
Der junge Lokführer selbst war von der scheinbaren Unüberwindlichkeit und Überlegenheit der modernen Technik 'seines' Zuges wie berauscht:
 
                        „[...] Am Süderturm
                        Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
                        Und Johnie spricht; 'Die Brücke noch!
                        Aber was tut es, wir zwingen es doch.
                        Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
                        Die bleiben Sieger in solchem Kampf.
                        Und wie's auch rast und ringt und rennt,
                        Wir kriegen es unter: das Element.
                        Und unser Stolz ist unsre Brück'.“
 
Unmittelbar im Anschluß an diese Konstellation ereignet sich urplötzlich die in ganz lakonischen Worten geschilderte Katastrophe. Vom Sturm aus der Bahn geworfen, stürzt der wie Feuer leuchtende oder tatsächlich brennende Zug ins Wasser des Tay:
 
                        „[...] wütender wurde der Winde Spiele,
                        Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel',
                        Erglüht es in niederschießender Pracht
                        Überm Wasser unten … Und wieder ist Nacht.“
 
Zwar hatte auch Johnie etwas von der personifizierten Dämonie der Naturmächte erkannt, wie eine bezeichnenderweise ebenfalls alliterierende Beschreibung des scheinbar besiegten „Elements“ erweist („und wie's auch rast und ringt und rennt“) deutlich macht, aber er zog die falsche Konsequenz: „ich lache, denk ich an früher zurück.“
Tatsächlich hat das „Element“ im Kampf mit der modernen Technik einen totalen, nie gefährdeten Sieg davon getragen: Brücke und Zug sind hilf- und rettungslos verloren, denn die Naturmächte in Gestalt der Hexen haben alle drei Elemente unter Kontrolle: Hoch in der Luft tobt ihr Wind, und der Zug versinkt in Feuer und Wasser.
 
Die Hexen geben sich zu Anfang und am Ende der Ballade als Stifterinnen des Unglücks zu erkennen. Die mythischen Wesen triumphieren über den „Tand von Menschenhand“. Der blinde Fortschrittsglaube des Menschen hat sich gegen ihn selbst verkehrt, und die schadenstiftenden Hexen können in grässlicher Freude die „Zahl“, die „Namen“ und die „Qual“ der Todesopfer beschreiben.
 
Durch das seiner Ballade vorangestellte englischsprachige Motto schaffte Fontane einen weiteren Bezugsrahmen für das Geschehen. In den vorchristlichen Vorstellungen der Rauhnächte dominierte das „Wilde Heer“: Wotan führte die Verstorbenen eines Jahres seit dem 24. Dezember (Zeit der Wintersonnenwende) durch die Lande, bis sie am 6. Januar ihr Ziel (das Reich der Totengöttin Hel oder Holle) erreichten. Die Menschen wurden vor jeglicher Begegnung mit dem Geisterzug gewarnt, denn dann brachten die vielgestaltigen Dämonen ihnen Unheil oder gar den Tod. Das Christentum konnte die alten, rudimentär bis heute bestehenden Vorstellungen von den Rauhnächten zwar nicht gänzlich ausrotten, aber doch in andere Bahnen lenken. Aus dem heidnischen Jahreszeitenfest (im alten Rom die Feier des Sol invictus, der wiederkehrenden Sonne) wurde bei Übernahme der alten Datierungen der Weihnachtsfestkreis, beginnend mit dem Heiligen Abend und endend mit dem Dreikönigsfest (Epiphanias am 6. Januar). Damit glaubte man denn auch die finsteren Mächte aus der Heidenzeit überwunden, wie es Shakespeare um das Jahr 1600 in seinem „Hamlet“ festgehalten hat, wenn es von „des Hahnes Krähen“ heißt:
 
                        „Sie sagen, immer, wenn die Jahrszeit naht,
                        Wo man des Heilands Ankunft feiert, singe
                        Die ganze Nacht durch dieser frühe Vogel:
                        Dann darf kein Geist umhergehen, sagen sie,
                        Die Nächte sind gesund, dann trifft kein Stern,
                        Kein Kobold schweift, noch können Hexen zaubern:
                        So gnadenvoll und heilig ist die Zeit.“
 
Die früher so besonders gefährlichen Rauhnächte haben ihre Macht verloren; an ihre Stelle ist die gnadenvolle Weihnachtszeit getreten, in der die dämonischen, teuflischen und hexenhaften Kräfte ganz besonders drastisch gebändigt scheinen.
 
Daß der Vorfall am Tay sich tatsächlich in diesen zu allen Zeiten kalendarisch herausgehobenen Tagen ereignete, gab Fontane Gelegenheit, seine auch sonst im Spätwerk immer wieder thematisierte Zivilisationskritik in einen weiten Rahmen zu stellen: Die alten, scheinbar magisch wirkenden Mächte der Natur sind - hier verkörpert in den als naturverbunden und zauberkundig angesehenen Hexen - ausgerechnet zur Zeit der Rauhnächte bzw. der Weihnachtstage zurückgekehrt bzw. noch immer lebenskräftig. Man mag auch bedenken, daß sich in den Hoffnungen und im Verhalten der „Brücknersleut'“ ein ganz veräußerlichter Umgang mit dem Weihnachtsfest zeigt: Es geht ihnen nur um den Lichterbaum und eine zweite Weihnachtsbescherung für den erst nach den Festtagen erwarteten Sohn. An die noch bei Shakespeare berufene erlösende Gnade Gottes, die in der Geburt des Erlösers für jeden Christgläubigen manifest geworden ist, wird kein Gedanke verschwendet.
 
Fontane gibt ein bestürzendes und immer noch aktuelles Bild der Entwicklung des industriellen Zeitalters schon in dessen Anfängen. Es ist kein Zufall, daß die jungen Expressionisten etwa 30 Jahre später genau an Sinn und Form der Fontane'schen Spätdichtung anknüpften. In Georg Heyms epochemachendem Gedicht „Die Dämonen der Städte“ beherrschen industrie- und großstadtfeindliche Geister die maß- und gottlos gewordenen Stätten moderner Zivilisation:
 
                        „Der Städte Schultern knacken, Und es birst
                        Ein Dach, daraus ein rotes Feuer schwemmt.
                        Breitbeinig sitzen sie auf seinem First          
                        Und schreien wie Katzen auf zum Firmament.“      
 
Und in Heyms Gedicht „Der Gott der Stadt“ läßt sich der als menschenfresserischer Moloch personifizierte Götze der modernen Industrialisierung und inhumanen Verstädterung von „der Schlote Rauch, den Wolken der Fabrik“ ebenso wie von den „Kirchenglocken“ und den vor ihm knienden „großen Städten“ huldigen. Die kritiklose Anbetung einer seelenlosen Technik und ihrer ständigen 'Fortschritte' ruft die scheinbar endgültig verbannten Dämonen ungewollt zurück, und diese zeigen es unübersehbar:
 
                        „Tand, Tand,
                        Ist das Gebilde von Menschenhand.“
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2019
 
 Redaktion: Frank Becker