Foto © Chris Kurbjuhn |
Das Dorf von Paris
Man könnte ihn eine Insel nennen im hektischen Paris, oder eine Oase, den mit 63 Metern höchsten Hügel der Stadt im südöstlichen 13. Arrondissement, die „Butte aux Cailles“. Doch gut verborgen liegt er, schützt sich so vor allzu großer touristischer Neugier. Wir waren an der Station Corvisart ausgestiegen, wo die Metro die schärfste Kurve von Paris fährt, hatten schließlich unter einem immensen Sozialbau aus den 60er Jahren einen Durchgang gefunden, waren durch einen jasminduftenden Park auf dem Hügel angelangt und völlig überrascht eingetaucht in eine Welt, die man in Paris nicht mehr vermutet. Enge begrünte Gassen, niedrige zumeist zweistöckige Häuser, schmale Bistros, wie das
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22 Quadratmeter messende „La Merle moqueur“ („Die Spottamsel“), Druckereien, Lithographenwerkstätten, Goldschmiedeateliers, eine winzige Buchhandlung, die bis in die Nacht geöffnet ist. Schließlich gelangten wir zur Place Verlaine und sahen Männer und Frauen, die mit Plastikflaschen an zwei Hähnen Wasser abfüllten. Schwefelhaltiges Thermalwasser erfuhren wir. Hier befindet sich seit 1903 ein Brunnen, in den aus 582 Tiefe das garantiert saubere und gesunde Wasser der Bièvre hochgepumpt wird, die bei Versailles entspringt und Paris unterquert. Neben dem Brunnen ein öffentliches Schwimmbad, das durch das 28 Grad warme Thermalwasser der Bièvre alimentiert wird und ebenfalls bis in die Nacht hinein geöffnet. Das Piscine mit angeschlossenem öffentlichen Duschbad für die Dorfbewohner, die kein Bad in ihren winzigen Wohnung haben, wurde 1924 in Originalbackstein und im Stil des Art-Deco erbaut. Wer hier in einem der drei Becken schwimmt, badet in einem Architekturwunder.
Église Foto © Chris Kurbjuhn |
Das Dorf von Paris ist klein, zwei Plätze, wenige Straßen, die einander kreuzen, eine Idylle, man meint in einer längst vergangenen Zeit zu sein. Doch Vorsicht. Gelegentlich gibt sich ein Blick frei vom Hügel und wir erkennen die Hochhäuser um die Place d’Italie, die das Dorf bedrohlich einzukeilen scheinen. Vom Wirt der „Merle Moquer“ erfahren wir, auf dem Hügel könnten glücklicherweise keine Hochhäuser gebaut werden, denn sein Kalkgestein würde sie einstürzen lassen. Und er erzählt die Geschichte seines Dorfes, sagt uns auch, „La Butte aux Cailles“ meine nicht „Wachtelhügel“ wie viele denken, sondern ein gewisser Pierre Caille habe 1543 das Land gekauft, auf dem dann einige Mühlen über Paris thronten, während rund herum noch Felder lagen. Erst kurz nach 1750 seien die ersten Häuser erbaut worden, zwischen denen im November 1783 ein Ballonfahrer, der Marquis d’Arlandes, gelandet sei, nachdem er Paris umflogen hatte.
Gegen 1900 dann gewann das Dorf das Gesicht, das es uns heute noch zeigt. Wir laufen über
Temps des Cerises Foto © Chris Kurbjuhn |
gepflasterte Straßen, die wie im Impasse Villa Daviel von Hängepflanzen gesäumt sind, finden in der Rue Alphard eine völlig begrünte Gasse und in der Rue Vergniauds durch einen Hauseingang hindurch einen blühenden Garten. Die Rue des 5 Diamants, welche die Butte durchquert, beherbergt hingegen noch zahlreiche kleine Handwerksbetriebe, aber auch ein Restaurant wie aus alten Zeiten „Chez Gladine“, wo man á la carte preiswert französisch schlemmen kann. Wir schlendern noch weiter, finden das „le Temps des Cerises“, das an das Chanson der Kommunarden von Paris erinnert und in deren Geist sich ein genossenschaftliches Restaurant gebildet hat. Wir aber steuern auf Empfehlung von Freunden das „Ésperance“ in der gleichnamigen Straße an, ein kleines Hotel mit Gastronomie. Es kommt uns vor wie ein Landgasthof, die Dörfler mit Kindern und Oma sitzen hier, schwatzen von alten Zeiten, wettern über die jungen Leute, die die Nacht oft zum Tage machen, vor allem aber genießen sie das dreigängige Menu, das inklusive Kir als Aperitif und Wein für 10 Euro zu haben ist. Als Hauptgericht empfiehlt der Wirt „Joue de boeuf“, Rinderbacke in Rotwein, und wir stellen fest, besser kann es auch im „Ritz“ nicht schmecken.
Chez Gladines
Foto © Chris Kurbjuhn |
Es geht hoch her hier, denn jeder hat etwas zu erzählen, manchmal auch vorzusingen, doch wir fühlen uns ein wenig fremd unter den Eingeborenen, suchen daher eine Bar für den Digestif. Im Blog von La Butte auch Cailles hatten wir gelesen, das Glück läge hier am Ende der Straße. Doch welcher Straße? Also fragen wir. Geht doch ins „La Folie en tête“ („Verrücktheit im Kopf“) meint ein Mädchen verschmitzt, mustert uns dabei, denkt sicherlich, die passen da doch überhaupt nicht hin.
Nur junge Leute hängen dort ab. Aber wir trauen uns hinein. Laute Rockmusik bläst in den verrückten Kopf, über Anarchie wird da diskutiert, über ein Leben ohne Arbeit, über das Paradies auf Erden, wie es einst die Kommunarden taten. Wo gibt es das noch? Doch bald sind wir mitten drin, sind für
Foto © Chris Kurbjuhn |
Stunden auch Bohemiens, proben in unserem Kurzurlaub ein wenig Anarchie, wollen gar nicht mehr raus. „Couvre-feu“, ruft der Garcon um zwei Uhr morgens gegen die Musik an, was soviel wie Ausgangssperre heißt. Alle verlassen geordnet und ohne zu Murren die Bar. Wir lassen uns noch treiben durch stille Gassen, glauben weiterhin nicht, daß wir mitten in dem so hektischen Paris sind. Der Schriftsteller Joris Huysmans schrieb schon 1901 nach dem Besuch der Butte aux Cailles von einer „Reise in ein unvermutetes Paris.“ Dem haben wir mehr als hundert Jahr später nichts hinzuzufügen und verlassen den Hügel durch die blühenden Gassen, gelangen wieder in die Stadt. Doch die Metro fährt nicht mehr.
Information:
Flüge nach Paris mit Easy Jet, Air France, Lufthansa
Weitere Informationen:
Maison de la France 09001 –570025
Oder Comité Regional de Tourisme de Paris: www.pidf.com
© Jörg Aufenanger - Erstmals erschienen am 1.3. 2008 in der Frankfurter Rundschau
Fotos: Chris Kurbjuhn
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